Eine Frau löst sich aus ihrer Familie, um einen eigenen Ort für ihr Schreiben zu finden: "Scary Mother" gewann den Wettbewerb in Sarajevo.

Foto: Filmfestival Sarajevo

Eine Episode aus dem heutigen Europa: In Sofia steigt ein Mann am Flughafen in ein Taxi. Er kommt aus Wien, und weil er es dort besser hat, macht er aus seinem Ärger über die Verhältnisse in Bulgarien kein Hehl. Die Fahrerin hat allerdings auch eine Geschichte, und wie es sich in dem Film Posoki (Directions) von Stephan Komandarev trifft, haben die Geschichten des Fahrgasts und der Taxilenkerin miteinander zu tun. Vor vielen Jahren, noch zu Zeiten des Kommunismus, wurde der Frau nämlich einmal ein Stipendium, für das sie in hohem Maß qualifiziert gewesen wäre, nicht gewährt. Es ging stattdessen an einen jungen Mann, dessen Vater ein hohes Tier in der Kommunistischen Partei war. Dieser junge Mann ist nun reich und lebt in Wien – und steigt bei einem Heimatbesuch in das falsche, und damit natürlich in das richtige Taxi.

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Posoki erzählt von den Verhältnissen im heutigen Bulgarien am Beispiel einer Reihe von Taxifahrten. Tschechows Erzählung Elend diente als Inspiration für einen Film, der im Grunde funktioniert wie ein Flugblatt: Die Kommunikation muss schnell sein, die Botschaft darf nicht zu komplex werden, die Skizze muss sitzen. In Cannes lief Posoki in der Reihe Un Certain Regard (konnte dort also, so der Titel der Sektion, auf "einen gewissen Blick" nebenbei hoffen), beim Filmfestival von Sarajevo (SFF) lief Posoki vergangene Woche im Wettbewerb und brachte es immerhin auf eine besondere Erwähnung der Jury.

Eine gewisse Ambition

Dass das erst Mitte der 1990er-Jahre noch unter den Bedingungen des Krieges gegründete SFF einen Wettbewerb hat, zeugt von einer gewissen Ambition: Man will das relevante Festival für den südosteuropäischen (heißt: weitgehend postkommunistischen) Raum sein. Die Auswahl von 2017 zeugt daneben aber noch von zweierlei: davon, dass man dafür auch Kompromisse eingehen muss, und davon, dass die Qualität der Filme aus der Region zwischen Tirana und Tiflis, Istanbul und Sarajevo aber leicht für eine hochwertige Konkurrenz reicht.

Die Kompromisse konnte man bei der Auswahl der Stars erkennen. Oliver Stone hat sich dieses Jahr mit den Putin-Interviews unmöglich gemacht, wurde in Sarajevo aber hofiert. John Cleese ist sicher in bestimmtem Sinn eine Legende, allerdings mit inzwischen beschränkter Reichweite.

Kaplan Film

Schwierigere Kompromisse ergeben sich aus der Suche nach Weltpremieren. Das ist die harte Währung des Kinos. Wer in Sarajevo an den Start geht, räumt implizit ein, dass es an wichtigeren Orten nicht geklappt hat. Dass Grain von Semih Kaplanoglu schließlich beim SFF als Eröffnungsfilm lief, versteht man aber schon nach zwanzig Minuten: Der türkische Arthouse-Star (Bal – Honig) hat sich mit seinem Saatgutmenetekel doch weit ins schwarzweiße Symbolistan verstiegen. Nach zwei Stunden glaubt wohl niemand mehr an das M-Partikel, das bei Kaplanoglu für eine vage turkotarkowskianische Anthroposophie steht, aus der eine neue Menschheit sprießen könnte.

Klein, aber fein

Mit sieben Filmen war der Wettbewerb in Sarajevo klein, die Qualität aber war generell hoch. Der rumänische Beitrag Meda or The Not So Bright Side of Things erzählt überzeugend vom harten Leben in einem Bergdorf, wo eine Art Schrumpffeudalismus herrscht: uralte Herrschaftsverhältnisse, die einmal durch eine Parteiherrschaft gebrochen wurden – wie die Menschen individuell auch.

IndieWire

Der griechische Son of Sofia von Elina Psykou führt uns in eine Wohnung, in der ein alter Exzentriker eine junge russische Frau mit ihrem Sohn aufnimmt. Hier ist der Ton latent surreal, als würde sich hochsensibles Autorenkino als eine Kindersendung im Fernsehen ausgeben. Der albanische Daybreak von Gentian Koçi hatte eine sehr ähnliche Geschichte, erzählte sie aber als pures Improvisations- und Überlebensdrama einer alleinerziehenden Mutter.

Artizm

Das "Herz von Sarajevo", wie der Preis beim SFF heißt, ging schließlich an den georgischen Scary Mother von Ana Urushadze, in dem eine Frau in mittleren Jahren sich aus ihrer Großfamilie herauszulösen versucht, weil sie für ihr Schreiben einen eigenen Ort (in jedem Sinn dieses Wortes) braucht. Das gilt in vergleichbarer Form auch für all die Filme, die in Sarajevo heuer ihren richtigen Ort fanden. (Bert Rebhandl, 21.8.2017)