Gerald Finley lässt als König Lear die innere Katastrophe des Charakters lebendig werden.

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Salzburg – Die Macht trägt – auf ihrem Weg zur Machtlosigkeit – Smoking und ist guter Dinge: Ausgelassen begrüßt der König sein Gefolge und erweist diesem die Gunst, ihm, Lear, öffentlich Liebe entgegensingen zu dürfen. Lear tut dies in der Felsenreitschule auf einer Blumenwiese, um die herum volle Zuschauerreihen postiert sind. Dass sein Ruhestand zur Hölle aus Demütigung und Irrsinn geraten wird, ahnt Lear wohl so wenig, wie seine – ihn auf der Bühne umgebenden – Zuschauer ihr nahendes Unglück spüren.

Sicherheitskräfte werden die festspielfestlich gewandeten Damen und Herren bald zwingen, in einer Blutlacke zu baden. Das Ritual wird ihnen womöglich erhellt haben, wie sich der König zu diesem Zeitpunkt längst fühlte: In Unterwäsche torkelt Lear durch Regen und Wind – Richtung halluzinatorische Umnachtung.

Die Inszenierung von Simon Stone arbeitet dicht an emotionalen Grenzbereichen der Figuren: Aus dem blumenprallen Laufsteg lässt er konsequent Niedertracht, seelische Verwüstung und Demütigung sprießen. Mord und paranoide Ängste wachsen empor in grellen Seelenfarben, und vielschichtig kommt das Grauen daher: Eine bierselige Sadomaso-Orgie ist ebenso möglich wie angststarre Figuren, die Erinnerung an üblen Taten plagen. Zu Säulen aus Angst und Empathielosigkeit werden zwei Töchter Lears, die Evelyn Herlitzius (als Goneril) und Gun-Brit Barkmin (als Regan) mit dramatischer Aufgeladenheit versehen, während Lear kalt vernichtet wird.

Verlust des Geistes

Der grandiose Gerald Finley gibt den König als emotional zerfallenden Zeugen des Verlusts an Zuneigung, Macht und Verstand. Er ist der Siechende, dem Finley noblen vokalen Ausdruck ebenso eindringlich verleiht, wie er auch die innere Katastrophe dieses Charakters drastisch und düster lebendig werden lässt.

Das Grauen trägt mitunter ein heiteres Gesicht: Der verstoßene Edgar (hervorragend Kai Wessel) erscheint Lear im Mickey-Mouse-Kostüm. Michael Maertens allerdings bedarf keiner solchen Verhüllung, um virtuos krächzend (als Narr) einen spleenig-heiteren Entertainer zu geben.

Die genaue, ins Extreme reichende, aber nie plakativ-deftige Arbeit Stones hebt sich aber – in Form der verstoßenen Tochter Cordelia – die große Pointe für den Schluss auf: Ein weißer, durchsichtiger Vorhang fällt; hinter ihm wird Lear seiner Tochter als lebloser Skulptur gewahr.

Ein betörendes Bild gruseliger Endzeit ist das; und die Oper wird damit ins Geisterhaft-Poetische überhöht, indem Seelenerstarrung und Tod quasi der Vereisung freigegeben werden (Bühne: Bob Cousins). Um Gerald Finley herum durch und durch Qualitätsvolles: Besonders Anna Prohaska (als Cordelia) reüssiert mit glasklarer Diktion und edlem Klang, dessen kühle Lyrik stimmig mit dem Schlussbild korrespondiert. Profund auch Lauri Vasar (als Graf von Gloster), Charles Workman (als Edmund) und der Rest des Ensembles – inklusive dem guten Wiener Staatsopernchor.

Perkussive Schläge

Dirigent Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker transportieren – trotz der Komplexität der wuchernden Strukturen – die klangauratische Kraft dieser Musik packend und bei Drama bedarf impulsiv. Diese unnach giebig zwischen Schlägen, Clustern, traumverlorenen Flächen und eruptiv ausbrechenden Tonkaskaden changierende Partitur von Aribert Reimann, der bei der Premiere anwesend war und gefeiert wurde, ist voll elementarer Kraft, und sie wird auch spürbar.

Entlang des hämmernden Wechselgesangs zwischen glänzendem Orchester und tollen Stimmen schwebt das elegante Meisterstück der psychologisch tiefreichenden Tonkunst seinem Ende entgegen.

Es beschert den Salzburger Festspielen einen weiteren Höhepunkt: Nach Alban Bergs Wozzeck und Dmitri Schostakowitschs Lady Macbeth ist dieser Lear ein dritter geglückter Ausflug in die klassische Moderne. Kein schlechter Festivalschnitt. (Ljubiša Tošić, 21.8.2017)