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Müßiggang ist in unserer alltäglichen Vorstellung sozusagen die Edelvariante der Faulheit.

Foto: AP / Jens Meyer

Faulheit. Seien wir ehrlich: Sie steckt in jedem von uns, sowohl die Sehnsucht danach, nichts Bestimmtes tun zu müssen, einfach zu sein, als auch das Bedürfnis, Faulheit nicht gut zu finden, insbesondere wenn andere sie praktizieren.

So mögen wir keine faulen Mitarbeiter, vor allem deswegen, weil dann wir selbst mehr arbeiten müssen und daher noch weniger – eben – faul sein können. Es gibt doch immer etwas zu tun, und "wer nicht mitmacht, der macht mit", wie es Georg Kreisler einmal so schön ausgedrückt hat, der bekommt zu spüren, was es heißt, nicht mit anzupacken, in die Hände zu spucken, dickere Bretter zu bohren, und was es da sonst noch an schönen Metaphern gibt. Er oder sie will nicht arbeiten? Dann soll er oder sie auch nicht essen, das war schon immer so.

War es schon immer so? Wir können es uns zumindest in der neoliberalen Umgebung kaum anders vorstellen, in der jeder angeblich seines Glückes Schmied und Geldverdienen der einzige Maßstab ist. Aber bewegen wir uns einmal aus dieser Welt heraus. Machen wir einen Bogen zweieinhalb Jahrtausende zurück, zu Diogenes.

Über dessen Wirken ist vieles nur aus Anekdoten bekannt, als gesichert aber gilt, dass er als Philosoph für die Befriedigung der Grundbedürfnisse plädierte, Arbeit und Plackerei darüber hinaus aber, die zur Anhäufung von Gütern nötig ist, ablehnte – er selbst soll nicht einmal einen festen Wohnsitz gehabt, vielmehr in Torbögen und in dem berühmten Fass gehaust haben.

Er hatte keine "geregelte" Tätigkeit vorzuweisen, keine Schule mit Jüngern und wurde trotzdem von Zeitgenossen wie Platon ernst genommen, wenn auch nicht gerade gemocht.

Die Kraft der Muße

Wir würden ihn allerdings auch nicht als faul bezeichnen – denken wir daran, dass das Wort ja eine zweite, nun wirklich negative Bedeutung hat, das, was im Englischen "rotten" heißt, wie etwa Hamlet über den Staat Dänemark mutmaßt.

Bei Diogenes sprechen wir eher von Müßiggang. Der ist in unserer alltäglichen Vorstellung sozusagen die Edelvariante der Faulheit. Mit Muße verbinden wir den elegant lässigen Umgang mit Zeit, den manche sich leisten können. Um den beneiden wir sie, er fasziniert uns im wirklichen Leben und in der Literatur.

Hans Castorp etwa, der für ein paar Wochen nach Davos reist, um sich zu erholen, und dann Jahrzehnte auf dem Zauberberg bleibt, ohne wirklich etwas weiterzubringen, im Gegenteil, er versinkt immer mehr in eine Traumwelt, bis ihn der Erste Weltkrieg eines Schlechteren belehrt.

Während Thomas Mann sich für die Fertigstellung seines Romans immerhin noch regelmäßig und pedantisch jeden Vormittag an den Schreibtisch setzte, soll Marcel Proust die müßiggängerische Lebensart der Pariser Bourgeoisie, die er ausmalte, selbst praktiziert haben, er lag angeblich die längste Zeit im Bett im halbdunklen Zimmer, in das die Rauheit der Großstadt nur sehr gedämpft eindrang.

Und Oblomow erst! Der Held in Gontscharows gleichnamigem Roman verkörperte Untätigkeit und Antriebslosigkeit in derartigem Maß, dass er nicht nur zum Sinnbild der "überflüssigen Menschen" im Russland des 19. Jahrhunderts, sondern sogar Namensgeber einer psychiatrischen Diagnose wurde, der Oblomowerei.

Sie bezeichnet die "Persönlichkeitsstruktur eines willensschwachen Neurotikers, der sich durch Apathie, Faulheit und Parasitismus auszeichnet".

"Mut zur Faulheit"

Hier haben wir wieder den Zwiespalt: Wir mögen fasziniert sein, doch glauben wir zu wissen, dass Müßiggang aller Laster Anfang ist und zu Krankheit und Verderben führt. (Vergessen wir nicht: Faulheit ist sowieso ein besonderes Laster, im Katholizismus als Trägheit des Herzens eine Todsünde!) Eine Ambivalenz auch in den Grundpfeilern des Sozialismus: Da gilt Arbeit als eine grundlegende Kategorie, durch sie erst wird die proletarische Klasse solidarisch und sprengt die Ketten des Kapitalismus – ja, aber um dann was zu tun?

Schlag nach beim jungen Marx: Er hatte prophezeit, die "klassenlose Gesellschaft" des Kommunismus werde den "totalen Menschen" schaffen und die gesellschaftliche Arbeit durch "freie Tätigkeit" ersetzen. Sie werde jedem Einzelnen ermöglichen, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden".

Das aber klingt sehr nach müßiggängerischem Flanieren, wie wir es ersehnen. Wir sind aber umgeben von "flexiblen" Arbeitszeiten, ständig auf Draht und stets zu noch mehr Aktivitäten verführt. Durch Onlinegepiepse verfolgt, vernetzt mit der ganzen Welt, 24/7, und allzeit bereit bis zum Abwinken, was wir leider nur selten tun.

Vielleicht braucht es wirklich mehr "Mut zur Faulheit", wie der Titel des diesjährigen Philosophicums in Lech lautete. Kommenden Herbst wird darüber diskutiert, wie Tugenden zu Lastern werden und umgekehrt, wie heute tüchtige Menschen gezüchtet werden, wie Arbeit wonnig und Faulheit mühsam sein kann und vieles mehr.

Wie Huckleberry Finn

Mitten im betriebsamen Getöse – und weil seltsamerweise immer wieder vom Fischen die Rede ist, wenn's um die Muße geht – fällt uns noch ein Held der Literatur ein, ein vielleicht unterschätzter Vertreter der "Autarkie", wie sie Diogenes schätzte ("Es ist gottähnlich, nur wenig nötig zu haben"): nämlich Huckleberry Finn.

Dieser "kam und ging, wie es ihm gerade passte (...), er brauchte weder in die Schule zu gehen noch in die Kirche, brauchte keinen als Herrn anzuerkennen und niemandem zu gehorchen. Er konnte schwimmen und fischen (!) gehen, wann und wo er nur wollte, und so lange aufbleiben, wie es ihm beliebte."

Kein Wunder, dass Huck zum Helden unzähliger nicht nur jugendlicher Leser wurde. Dabei klingt seine Lebensweise bedenklich nach der Marx'schen Vision einer besseren Welt. Ob das Buch "Tom Sawyer" nicht auf den US-Index jugendgefährdender Schulliteratur gehört oder zumindest die Trigger-Warnung enthalten soll, dass hier leistungsfeindliche linke Utopie verbreitet wird?

Tom findet übrigens, ohne je einen Philosophen gelesen zu haben, sehr pragmatisch heraus, wie man Arbeit als etwas Wonniges verkaufen und dabei selbst gewinnbringend faul bleiben kann, im Grunde ein erprobtes Rezept für den modernen Kapitalisten. Also doch nicht auf den Index mit dem Buch.

Am Ende von Mark Twains Roman finden die beiden Freunde bekanntlich einen Schatz. Änderte Huckleberry sich, als er plötzlich reich und von Toms Tante verwöhnt und ins geschäftige "bessere" Leben eingeführt wurde? Mitnichten. "Tom", sagte er, "reich sein ist nicht halb so schön, wie man immer sagt. Nix wie Plage und Schinderei hat man davon, sodass man lieber tot sein möcht'!"Und wohin ist er zurückgekehrt? In ein Fass, wie Diogenes. (Michael Freund, CURE, 31.10.2017)