Die Europäische Union ist nach 60 Jahren zweifellos ein Erfolgsprojekt von historischer Bedeutung. Trotzdem droht das durch die Völkerwanderung virulent gewordene Gift des Nationalismus, an dem Europa schon zweimal zugrunde gegangen ist, den Kontinent erneut zu verseuchen. Die europäische Einigung, die Friedenszone mit einer gemeinsamen Währung für 300 Millionen Menschen, befindet sich zum Teil durch gravierende Konstruktionsfehler, aber auch infolge der populistisch-nationalistischen Strömungen innerhalb der EU in existenzieller Gefahr.

Kein Wunder, dass wohl auch aus Anlass des 60. Geburtstages zahlreiche Streitschriften, Essaybänder und Publikationen die Ursachen der Krise und die möglichen Auswege behandeln. Sie reichen von Ulrike Guérots Der neue Bürgerkrieg, einer geistreichen Utopie für die "politische Neugründung Europas" zur brillanten Analyse Claus Offes Europa in der Falle, von den kenntnisreichen Zusammenfassungen Werner Weidenfelds bis zum jüngsten anregenden Essay des bulgarischen Politologen Ivan Krastev Europadämmerung (Suhrkamp). Seine Abhandlung ähnelt im Grunde einer Todesurkunde der Europäischen Union.

Krastev sieht die Flüchtlingskrise und nicht den Brexit oder das Nord-Süd-Gefälle als die "einzige wirklich gesamteuropäische Krise". Die Völkerwanderung habe den Charakter demokratischer Politik auf nationaler Ebene dramatisch verändert. Die Ost-West-Spaltung, durch die Flüchtlingskrise wiederaufgelebt, bedrohe den Fortbestand der Union. Krastev, der das Zentrum für liberale Strategie in Sofia leitet und auch am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien tätig ist, beschreibt die Solidaritätsverweigerung der Osteuropäer als die feindselige Haltung der von der Wende und der Politik Brüssels enttäuschten, "vergessenen Verlierer". Dazu gehört auch die Angst vor der dramatischen Schrumpfung der eigenen Bevölkerung. Er weist auf die Gefahr durch die von populistischen Politikern befürworteten Referenden hin: "Falls die EU Selbstmord begeht, wird die Waffe dazu höchstwahrscheinlich eine Volksabstimmung oder eine Serie von Volksabstimmungen sein."

Zu Recht stellt der skeptische Bulgare fest, dass eine paneuropäische Bewegung jüngerer, kosmopolitisch gesinnter Europäer heute kaum Chancen habe, dauerhaften Einfluss auf die Politik zu nehmen. Bemerkenswert und für Politiker besonders aufschlussreich ist die Analyse der mutigen, der niederträchtigen und der hässlichen Varianten der Volksabstimmungen in Italien, in den Niederlanden und in Orbáns Ungarn.

Trotz der auch von den jüngsten Meinungsumfragen bestätigten Aufbruchsstimmung in diesem Sommer zugunsten der EU lassen Krastevs "Überlegungen zur Zerbrechlichkeit und Widerstandsfähigkeit Europas" kaum viel Hoffnung auf lange Sicht aufkommen. Ob "die Kunst der ständigen Improvisation" Europa am Ende noch retten könnte, ist nicht mehr als ein Hoffnungsschimmer. Dieser schmale, blendend geschriebene, subtil argumentierte Essayband sollte eine Pflichtlektüre für jene deutschen und österreichischen Politiker sein, die noch Bücher, und nicht nur Facebook-Postings und Tweets lesen. (Paul Lendvai, 21.8.2017)