Der Nebel macht sich breit wie eine Wand, ist dickflüssig wie Chowder. So heißen in Kanada die nahrhaften Fischsuppen mit Muscheln oder Hummer. Dicke Brühe gibt es in der Provinz Nova Scotia ständig. Aus dem Unsichtbaren wabern Dudelsackklänge herüber, die man in der felsigen Einsamkeit von Peggy’s Cove an der Südküste nicht erwartet, doch die sirenenhaften Töne locken und man folgt ihnen.
Bevor die rote Metallkanzel eines Leuchtturmes vor einem erscheint, steht George Coombes da, mit Dudelsack und Schottenrock – mindestens genauso bizarr wie das markante Seelicht, das seit 1914 auf der Felsnase aus Granit Schiffen den Weg weist. Der Musikant aus Halifax hat das Instrument seiner Vorfahren selbst gebaut. Fünfzig Jahre spielt er schon, und seit er pensioniert ist, bläst er für ein kleines Geld im Küstenwind. Früher gab es im Turm ein Postamt mit Sonderstempel, heute gibt es den Dudelsackpfeifer.
Hummer statt Kabeljau
Peggy’s Cove ist das Highlight auf der 339 Kilometer langen Leuchtturmroute entlang der Atlantikküste von Nova Scotia, einer Halbinsel, die nur durch eine Landbrücke mit dem Festland verbunden ist. Die Provinz ist Kanadas zweitkleinste, sie misst aber zwei Drittel der Fläche Österreichs. Von Halifax aus sind es 44 Kilometer nach Peggy’s Cove.
Eine Strecke, für die man eine Autostunde braucht, weil die kanadische Gemütlichkeit auf Landstraßen eine Geschwindigkeit von nur 80 km/h erlaubt. Zum Leuchtturm von Peggy’s Point wollen alle Nova-Scotia-Reisende, um ein Foto wie auf den Postkarten zu schießen – mit knallblauem Himmel. An Nebeltagen bleiben die Stühle vor dem Gasthaus Harbour View leer. Trotz des Tourismus hat sich das Fischerdorf den rustikalen Charme bewahrt.
Im Hafen herrscht Betriebsamkeit, Fischer entladen am Kai ihren Fang und reinigen die Reusen. "Hummer haben wir in rauen Mengen", sagt Eric Murash. "Die mögen den eisigen strömungsreichen Nordatlantik." Seit vierzig Jahren fängt er nur Krustentiere. Mit 250 Fangkästen holt er pro Tag gut und gerne 500 Kilogramm aus dem Meer. Er führt das auf das Ausbleiben des natürlichen Feindes, des Kabeljaus, zurück. "In cod we trust" – "Wir glauben an den Kabeljau" –, hieß es noch Mitte des 20. Jahrhundert bei den Küstenbewohnern. Der Fischsegen galt als Gottesgeschenk, der Speisefisch war lange die wichtigste Einnahmequelle. Wer heute an der Küste lebt, lebt entweder vom Hummer oder von den Touristen. Die meisten von beidem.
Safrangelb oder Quietschblau
Auch die Hafenstadt Lunenburg, die nächstgrößere Stadt an der Leuchtturmroute, ist durch Fischfang reich geworden. Auf der Turmspitze der St.-Andrews-Kirche dreht sich ein Kupferkabeljau als Wetterzeichen. Die fetten Jahre sieht man den viktorianischen Villen in der schachbrettartig angelegten Altstadt noch an, besonders in der King Street.
Die palastähnliche Schule Lunenburg Academy und die sechs Kirchen machen viel her, Türmchen, Erker und Treppchen mit Meerblick, sogenannte Witwengänge, wachsen aus den Häusern heraus. Fenster und Türen sind wie von Brüsseler Spitze umrahmt. Die Fassaden strahlen in knalligem Magenta, sattem Safrangelb oder Quietschblau. Holz ist der Baustoff, nur das Bankgebäude ist aus Stein.
Dabei sah es am Anfang ganz anders aus. Den Siedlern im frühen 18. Jahrhundert hatte die britische Verwaltung von Nova Scotia große Versprechungen gemacht: freie Überfahrt, 25 Hektar Land, Holz zum Bauen, gratis Lebensmittel für ein Jahr, Glaubensfreiheit. Das lockte vor allem Süddeutsche und Schweizer an, hervorragende Bauern, Tischler und Schmiede, die sich später Knickle, Himmelman oder Whynot nannten. Nicht ein einziger Fischer war unter ihnen. Doch die Böden waren mager, die Ankömmlinge bissen auf Granit. Hummer gab es damals schon so reichlich, dass man mit ihm die Felder düngte.
Museale Großsegler
So wurden aus Bauern Fischer, aus Tischlern Schiffsbauer. Lunenburg entwickelte sich zum Zentrum der Nordatlantikfischerei. Die Fangflotte zählte 140 Gaffelschoner. Statt der Segler kamen in den 1950er-Jahren schwimmende Fischfabriken auf, die die Kabeljaubestände der Grand Banks bis nach Labrador abräumten. Die kanadische Regierung reagierte 1992 mit einem Fangverbot. Die Hochseefischer verlegten sich auf Schalentiere, die Bevölkerungszahl Lunenburgs halbierte sich.
Als die museale Altstadt 1995 zum Welterbe erklärt wurde, bezogen Restaurants und Geschäfte die historischen Schmuckstücke im "Unesco-Fresko", wie die Lunenburger die schrille Farbenpracht gern verspotten. Heute leben die rund 2.300 Einwohner nicht schlecht vom Tourismus.
Das knallrote Fisheries Museum of the Atlantic, das in der ehemaligen Schiffswerft am Hafen untergebracht ist, dokumentiert die ganze Geschichte. Am Kai davor ist eine Kopie des legendären Gaffelschoners Bluenose II vertäut, der nur noch zum Whalewatching ausläuft. In elf Häfen in Nova Scotia sind heuer Großsegler wie dieser zu bestaunen. Sie kreuzen dort zur Freude vieler Besucher zu den Feierlichkeiten zum 150-jährigen Bestehen Kanadas auf.
Perfekt historisch
Unterwegs auf der Lighthouse Route gibt es genug Gelegenheiten, den kleinen Hunger zwischendurch mit Hummer zu stillen. In Imbissbuden kann man etwa einen McLobster für umgerechnet rund vier Euro bestellen – die zerkleinerte Delikatesse im schlaffen Brötchen. Lobster bekommt man überall, nicht nur in Nobelrestaurants, sondern auch vom Plastikteller im einfachen Gasthaus: gekocht mit Pommes und Ketchup, als Chowder, als Lobsterfondue oder zum Frühstück als Lobsteromelett. Wer ohne den Geschmack gar nicht mehr sein kann, kauft sich Lobsterchips to go.
Bei den Leuchttürmen stellt man bald fest, dass nicht alle rank und schlank in die Höhe ragen. Es gibt auch die niedrigen, die die Einfahrten von Flussmündungen oder Häfen markieren, wie etwa der von Fort Point bei Liverpool von 1855. Eigentlich erscheint er wie ein Wohnhaus mit Park, weshalb man ihn an Land leicht übersieht. Sein Lichtsignal diente nur 135 Jahre, bevor der Betrieb 1990 eingestellt wurde.
Shelburne ist weit weniger überlaufen als Lunenburg. In dem von amerikanischen Loyalisten 1783 gegründeten Ort umgeben blühende Gärten die bunten Häuser. In fast jedem dreht sich ein Windspiel. Die Kulisse ist so perfekt historisch, dass sich in den Sommermonaten Filmteams in den Gassen tummeln, um Kostümstreifen zu drehen.
Kap der gesunkenen Schiffe
Hat man die Westküste umrundet, ist Cape Forchu erreicht. Auf der Spitze eines vorgelagerten Felsens weist ein Leuchtturm seit 1840 den Weg in die Bucht von Yarmouth, in der trotz des Lichts schon viele Schiffe gesunken sind. "Ein Drittel des Jahres haben wir gefährlich dichten Nebel", sagt Jill Darley, die im Leuchtturmmuseum freiwillig Dienst tut. Bis 1961 brannte das Feuer mit Waltran, und weil der Turm wie ein abgenagter Apfel aussieht, habe er den Namen "Apple Core" bekommen, erklärt die Geschichtsstudentin. Auf der Kapnase spritzen die Wellen hoch gegen die Felsen und geben den Beobachtern eine Ahnung von der Macht des Meeres.
Hall’s Harbours bekanntestes Restaurant Lobster Pound am Zielpunkt der Route zieht Gäste an wie ein Leuchtturm Schiffe. Sie rennen dem Wirt die Bude ein, weil sie den Leckerbissen nach Gewicht im Lebendaquarium aussuchen und sehen können, wie er in den Topf kommt. Während der Schmaus gart, versucht Lowell Simpson mit ein paar Schauermärchen aufzuräumen: "Der Hummer stirbt in der Sekunde, in der er ins Kochwasser fällt."
Simpson zeigt ein kapitales Tier, dessen Scheren von Gummis zusammengehalten werden. "Weil sie Kannibalen sind." Dann setzt er das Tier auf den Boden und entfernt die Gummis. Simpson legt eine Miesmuschel zwischen die Scheren, blitzschnell hat sie der Hummer durchtrennt. "Das macht er auch mit euren Fingern", warnt Simpson und wünscht guten Appetit. (Beate Schümann, Rondo, 25.8.2017)