Bullet-Journal? Bitte wie? Was klingt wie die Aufzeichnungen von Revolverheld Billy the Kid, ist vor allem beim Jungvolk das absolute Must-have. So wie Fidget-Spinner und Einhörner an allen Enden und Ecken auftauchen, führt auch am Bullet-Journal kaum ein Weg vorbei. Aber was zum Teufel ist das Ding?

Man darf sich wundern: Das Bullet-Journal ist ein leeres Notizbuch. Im Ernst. Zwischen zwei Buchdeckeln finden sich leere Seiten mit kleinen Pünktchen, den sogenannten Bullets. Der Bullet-Point ist ein Kügelchen, das sonst gern vor Aufzählungen gesetzt wird. Diese Kügelchen bilden das nur schwach sichtbare Grundraster für die Gestaltung der Buchseiten. Nun, das wäre jetzt beileibe noch keine Sensation, doch ist es nicht das Buch an sich, das das Journal für viele zur absoluten Bibel in den sozialen Medien macht.

Bunt, pingelig, nerdig oder reduziert: In Sachen Gestaltung tobt sich der Freund des Bullet-Journal, einer Art flexibles Organisationstool, mannigfaltig aus. Allein auf Youtube findet man zu dem Begriff an die 300.000 Einträge.

Es ist viel mehr das System, das dahintersteckt. Eingefallen ist diese eine geniale Idee, nach der so viele Zeitgenossen suchen, dem jungen amerikanischen Designer Ryder Carroll, der vor drei Jahren dieses Organisationstool ersann, weil ihm gewöhnliche Planer nicht flexibel und übersichtlich genug erschienen. Außerdem habe er während seiner Kindheit, die er übrigens in Wien verbrachte, unter starken Konzentrations- und Lernschwächen gelitten, was ihn dazu motivierte, ein neues Planungssystem auszubaldowern. Dieses sollte mehr Struktur in seinen Alltag bringen. Und mit diesem Unterfangen hat er offensichtlich genau den Nerv der Zeit getroffen. Carroll nennt die Geschichte "ein flexibles, analoges System für das digitale Zeitalter".

Pingelig bis hysterisch

Philip Döbler, Geschäftsführer der deutschen Leuchtturmgruppe, die Notizbücher ähnlich wie Moleskine erzeugt: "Ryder Carroll hat eine Idee entwickelt, wie man in Zeiten wie diesen fokussiert mit all den Infos um sich herum umgehen kann. Klar könnte man für dieses System jedes Notizbuch nützen. Carroll benützt eines unserer Bücher, weil wir bei der Entwicklung unseres Notizbuches schon vor 15 Jahren seine Grundlagen integriert hatten. Dazu gehören unter anderem Seitenzahlen, Inhaltsverzeichnis etc. Wir haben dann später für ihn und mit ihm das Leuchtturm 1917 Bullet Journal aufgelegt." Anbieter gibt's freilich mehr, doch Döbler spricht im Zusammenhang mit seinem Büchlein vom offiziellen, von Carroll lizenzierten Büchlein, weil "wir die Einzigen sind, die das Buch dem Design und dem System von Ryder Carroll angepasst haben".

Wie das in der Praxis aussieht? Von reduziert pingelig bis ornamental hysterisch. In die Terminkalender werden manchmal Fotos eingeklebt, To-do-Listen und andere Organigramme kunstvoll und farbenprächtig verziert, allerlei Kästchen und Raster gezeichnet und so weiter und so fort. Jeder, wie er will. Die vorgegebene Struktur besteht nicht mehr aus Wochen oder Monatsrastern, sondern wird selbst bestimmt. Tipps und Anleitungen und somit wieder ganz eigene "Systeme" gibt's im Internet zuhauf.

So viel DIY-Charakter der Kalender zum Selbergestalten auch hat, so sehr ist er also auch an Instagram, Pinterest und Co gekoppelt. Allein auf Youtube gibt es an die 300.000 Einträge zum Thema Bullet-Journal. Ihre Poster strahlen zum Teil wie kleine Kinder, die endlich ihr längst ersehntes Hündchen bekommen haben. Sogar Workshops werden angeboten. Es wird referiert, geblättert und gezeigt, wie, wo, was. Stichworte und Gestaltungsmethoden heißen "Memories page", "Goals", "Tasks", "Habit tracker", "Sleep tracker" und so weiter und so fort. Auch Meldungen wie "das Bullet-Journal hat mein Leben verändert" sind häufig zu finden. Der Youtube-Kanal einer gewissen Gretchen Hope in Sachen Bullet-Journal wurde über eine Million Mal aufgerufen und auch die Stiftindustrie dürfte sich freuen, denn über die Frage, welche die richtigen sind, wird freilich ebenso heiß debattiert. Der Erfolg des Bullet-Journal hat Ryder Carroll jedenfalls mehr als überrascht. "Ich bin immer noch überrascht, jeden Tag", sagt er.

Rückzugsbüchlein

Dabei handelt es sich bei den Journals keinesfalls um Malhefte für Nerds, sondern eher um eine Art Superfilofax für die Generation Whatsapp. Es ist beeindruckend, mit wie viel Hingabe sich die Benützer ihrem Büchlein widmen. Bestimmt befriedigt der Hype, küchenpsychologisch betrachtet, auch das Bedürfnis nach mehr Ordnung, Ruhe und Rückzug abseits des omnipräsenten digitalen Rummels.

Erstaunlich ist dabei, dass es vor allem jüngere Frauen sind, die zumindest im Internet auf das Buch abfahren. Philip Döbler von Leuchtturm: "Für die sozialen Medien stimmt das, wir wissen aber, dass wir im Verkauf einen ziemlich ausgewogenen Geschlechtermix haben. Die Männer posten ihre Journals halt nicht so gern." Bei der Altersgruppe spricht Döbler von einer Käuferschicht, die vorwiegend zwischen 15 und 35 ist. Ryder Carroll beantwortet die Frage nach der Zielgruppe für sein System so: "Die Flexibilität des Systems passt zu sehr vielen Menschen, egal ob es Schüler, Soldaten oder Mediziner sind. Jeder, der ein bisschen mehr Struktur im Alltag sucht, wird davon profitieren."

Ob er mit seinem Bullet-Journal reich wurde? Bei dieser Frage bleibt Carroll ebenso flexibel: "Wenn Sie Reichtum damit definieren, dass ich nach dem Aufwachen tun kann, was ich gern tue, dann ja."

Ryder Carroll ist vom Erfolg des Bullet Journals nach wie vor überrascht.
Foto: bullet journal

Man kann nun neidisch den Kopf über derlei Erfindergeist schütteln, man kann aber auch erkennen, dass trotz der nahen Beziehung dieser analogen Leidenschaft zum Internet vor allem junge Leute sich gern für etwas Zeit nehmen, das viele schon den Bach hinuntergehen glaubten. Wenn die Generation Smombie (Kombi aus Zombie und Smartphone) abschaltet, nachdenkt, zeichnet, malt, plant, schreibt, dann gehört diesem Carroll ein Denkmal gesetzt.

Die Kids sind kreativ und schaffen kleine, greifbare Schätze, die bleiben. Ganz zu schweigen davon, dass sich Bujo-Fans der Handschrift bedienen, statt nur noch mit dem Zeigefinger übers Tablet zu wischen, und wir wissen: Mit der Hand zu schreiben erfordert im Gegensatz zum Hämmern auf die Tastatur den richtigen Druck, eine eigene Technik sowie die Koordination von Auge und Hand. Das fördert die kognitive Entwicklung und die Feinmotorik.

Und noch etwas: Es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, flüssig zu schreiben, und dem Können, sich Texte und deren Sinn einzuprägen. Das heißt, wer zu Stift und Bullet-Journal greift, merkt sich auch mehr. Man sieht: Manch einer erfindet sogar das Rad neu und dreht es dann noch ein Stückchen weiter. (Michael Hausenblas, RONDO, 27.8.2017)

Gretchen Hope

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