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"Auch wir sind Opfer", stellt diese junge Teilnehmerin einer Friedensdemonstration von Muslimen in Barcelona fest.

Foto: AP / Santi Palacios

Nach der Zerschlagung der Terrorzelle, die die Attentate von Bar celona und Cambrils zu verantworten hatte, riefen am Montagabend mehr als 150 muslimische Organisationen in Spanien zu Demonstrationen in der katalanischen Hauptstadt sowie in Madrid auf – und tausende setzten ein sichtbares Zeichen gegen den vom "Islamischen Staat" (IS) propagierten Terrorismus. Motto der Demos: "Nicht in meinem Namen!"

Zugleich ist landesweit eine Debatte voll entbrannt, wie man die Sicherheit verstärken und die Radikalisierung potenzieller Terroristen verhindern kann. Raquel Rull, Sozialarbeiterin aus Ripoll nördlich von Barcelona, arbeitete einst mit dem Gros der späteren Attentäter zwischen 17 und 34 Jahren. In einem offenen Brief an die Zeitung La Vanguardia schrieb sie: "Sie waren Kinder, wie alle Kinder in Ripoll. Was haben wir bloß falsch gemacht?" Nachbarn und Freunde des am Montag von der Polizei erschossenen Younes Abouyaaqoub beschrieben den 22-Jährigen als "ruhigen, ausgezeichneten Schüler, einen Auto- und Fußballfan" – so wie viele Jugendliche weltweit.

Carola García-Calvo, Antiterrorexpertin beim Thinktank El cano, schrieb am Dienstag in El País von einer "Bilderbuch-Terrorzelle", deren Mitglieder starke "familiäre und nachbarschaftliche Bindungen" aufwiesen. Sie alle seien in der 10.000-Einwohner-Gemeinde Ripoll erstaunlich gut integriert gewesen. Ein einzelner Imam, der bei einer ungeplanten Explosion getötete Abdelbaki Es Satty, sei für deren Radikali sierung verantwortlich gewesen. Und diese sei nicht über das Internet, sondern im Wesentlichen offline erfolgt. Es gelte nun, die Strategie im Kampf gegen den Terrorismus zu überdenken.

Beunruhigende Studie

Fernando Reinares, Terrorismusforscher an Universitäten in Madrid und Washington, weist in einer aktuellen Analyse von 178 zwischen 2013 und 2016 in Spanien verhafteten Personen darauf hin: Die überwiegende Mehrheit seien Männer zwischen 18 und 38 Jahren, die an einem der vier Hotspots für Radikalisierung – Barcelona, Madrid sowie die Exklaven Ceuta und Melilla – zum Salafismus umgeschwenkt seien. Einer von zehn sei Konvertit mit zumeist akademischer Ausbildung. Je knapp 50 Prozent seien spanische – auch Immigrantenkinder zweiter Generation zählt er dazu – sowie marokkanische Staatsbürger.

Laut Reinares geschah deren Radikalisierung in mehr als 52 Prozent online und offline im direkten Umfeld einer Moschee oder über jihadistische Internetpropaganda. Über 80 Prozent wurden nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen indoktriniert.

Kritik wird auch am Islamismuspräventionsprogramm an katalanischen Schulen ("Proderai") laut, das 2015 nach den Pariser Anschlägen von der Polizeibehörde Mossos d’Esquadra und dem regionalen Bildungsministerium geschaffen worden war: Muslimische Gemeinschaften und NGOs erachten es als "stigmatisierend" und "ohne wissenschaftliche Basis". Lehrkräfte sind verpflichtet, mögliche Fälle von Radikalisierung zu melden. Zu 15 solcher Reports zählen laut Ibrahim Miguel Ángel Pérez von der Plattform Muslime gegen Islamophobie: Weihnachten oder Fasching nicht feiern wollen, Hennatattoos tragen oder Referate zum Kalifat von Córdoba und Al-Andalus halten.

Auch daran, dass sich Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau bisher weigert, Barrieren an den Zufahrten zum Boulevard Las Ramblas aufzustellen, stoßen sich rechte Kommentatoren, Politiker des Partido Popular (PP) und ein reaktionärer Priester: Santiago Martín rief in einer Predigt dazu auf, die Bürgermeisterin "wegen Mittäterschaft anzuzeigen". Colau betont, sie habe schon längst die Polizeipräsenz aufgestockt – doch physische Barrieren aufzustellen, das stünde "im Widerspruch zur Weltoffenheit Barcelonas". (Jan Marot aus Granada, 22.8.2017)