Lauscht Paganini die Modernität ab: Ilya Gringolts.


Foto: Tomasz Trzebiatowski

Salzburg – Die Paganini-Capricci hat man an diesem Jahrhundertabend zum ersten Mal "wirklich" gehört. Was bislang als artistisches Gefege und Gesäge abgespeichert war, ist tatsächlich ein Zyklus feinster Charakterstücke von größter Ausdruckskraft. Das war die geradezu beglückende Erkenntnis aus dem Solistenkonzert des Geigers Ilya Gringolts bei den Festspielen. Gespielt hat der russische Virtuose Niccoló Paganinis 24 Capricci für Violine solo. Diese hat er an dramaturgisch klug gewählten Stellen interpunktiert mit den Sei Capricci für Violine solo von Salvatore Sciarrino.

Faszinierend war an diesem Abend alles: die Werkdramaturgie, die stupende Virtuosität des Künstlers und die Schönheit und Tiefe der Einzelwerke, in denen beinah die gesamte Musikgeschichte vorkommt, vom barocken bis zum romantischen Gestus inklusive Jagd- und Hornquinten-Motivik – bei erstaunlich moderner "Abgründigkeit" auch in den rein virtuosen Mittelteilen.

Zwischen den beiden Zyklen von Paganini und Sciarrino liegen großzügige 150 Jahre Musikgeschichte, dennoch atmen die Werkfolgen den gleichen Geist: den Wunsch nach Überschreiten der technischen und interpretatorischen Grenzen des Spiels auf der Violine und darüber hinaus den Wunsch nach Vermittlung von Emotionen in ihrer gesamten Bandbreite. Dass ein Sciarrino im Solostück mit dem pianissimo "spielt", verwundert nicht, und wurde von Gringolts ebenso "spielerisch" vermittelt.

Dass es möglich war, nach anfänglicher Unruhe im Saal in diesen "modernen" Stücken auch den Passagen beinahe jenseits der Hörbarkeit zu folgen, war nur ein Zeichen für die steigende Spannung beim Publikum. Dass Gringolts auf die Miniaturen von Paganini jeweils ein zeitgenössisches Schwesternwerk in Duktus und Intensität folgen ließ, erzählt von einem Vermittlungsvermögen, das alle gut gemeinte "Musikvermittlung" alt aussehen lässt.

Die geigerischen Schwierigkeiten der Paganini-Capricci wird nur ein Geiger ermessen können. In der Lesart von Gringolts jedenfalls war von "Schwierigkeit" einfach nichts zu hören, so elegant, wendig und erhellend war die Phrasierung, so blitzsauber die Intonation, so facettenreich der "Strich". Da war einfach alles vorhanden, vom klaren, strahlenden Gesang bis zum dramatischen Aufbegehren. Vibrato? Sparsam und effektvoll. Große Kantilene? Zum Niederknien schön ausgespielt. – Nicht einmal, wenn man bei Paganinis Nummer 11 darüber nachdenkt, welches berühmte "Ave Maria" er da wohl verwendet hat. Bei Paganinis Nummer 14 denkt man dagegen an Jörg Widmanns "Jagdquartett", komprimiert für eine Geige. Es gibt sie – Konzerte, die glücklich machen. (Heidemarie Klabacher, 23.8.2017)