Schiffe haben es Struan angetan. Sobald sich eines über den Meeresarm Loch Nevis dem Küstenort Inverie nähert, rennt er mit seinem Vater hinunter zum Anleger und hilft, das Boot am Pier zu vertäuen. Ein Schiff ist auch die einzige Möglichkeit, den 80-Einwohner-Ort, in dem der Elfjährige mit seinen Eltern und seiner Schwester Anna lebt, zu erreichen.

Nach Inverie auf der Halbinsel Knoydart im Nordwesten Schottlands führen weder Autostraßen noch Schienen. Struans Vater Ian Robertson diente einst bei der britischen Armee. "Ich bin viel in der Welt herumgekommen", erzählt der 70-Jährige: "Kenia, Singapur, Zypern und Deutschland waren meine Stationen." Danach wählte Ian die Abgeschiedenheit. 21 Jahre lang betrieb er in Inverie den entlegendsten Pub des britischen Festlands, The Old Forge Inn.

Land ohne Mobilnetz

Trotz der isolierten Lage ist das Dorf eine multikulturelle Gemeinde: Holländer, Belgier, Deutsche, Polen und Neuseeländer zählen zu den Bewohnern, da sie wie Ian Robertson und seine Frau Jackie von der grünen, friedlichen Landschaft ohne Mobilfunknetz fasziniert waren. "In Inverie leben alle, weil sie wollen, nicht weil sie müssen", meint Ian: "Einmal im Monat geht es zum Großeinkauf nach Inverness an die Ostküste. Drei bis vier Stunden von der nächstgelegenen Straße in Mallaig mit dem Auto quer durch die Highlands. Dort übernachten wir, genießen etwas Kultur und arbeiten unsere Einkaufliste ab."

Die "Lord of the Glens": Das 1985 in Griechenland gebaute Schiff wurde im spanischen Bilbao extra für den Kaledonischen Kanal umgerüstet.
Foto: wikicommons/jmb

Am späten Nachmittag wird Struan der Lord of the Glens beim Anlegen helfen. Das blau-weiße Schiff im Yachtstil ist vor fünf Tagen in Inverness im Kaledonischen Kanal gestartet. Zwischen 1803 und 1822 ließ der schottische Ingenieur Thomas Telford den Kanal errichten, der die Nordsee mit dem Atlantik verbindet und Schiffen die lange Fahrt um Schottlands stürmischen Norden ersparen sollte. Nur ein Drittel des 97 Kilometer langen Kanals ist künstlich erschaffen. Er verbindet die vier Seen Dochfour, Ness, Oich und Lochy miteinander. Höhenunterschiede werden mit 29 Schleusen ausgeglichen.

Auf der Suche nach Nessie

Auf den Lochs kann es bei Regen und Wind durchaus hoch hergehen wie auf stürmischer See, hatte Kapitän Anthony Reading beim Begrüßungsdinner beiläufig erwähnt. Doch am nächsten Mittag fallen keine dicken Regentropfen vom Himmel, sondern Sonnenstrahlen lassen Sterne auf dem blauen, spiegelglatten Wasser tanzen. Mit sechs Knoten, also rund elf Kilometern pro Stunde, steuert Reading die Lord of the Glens über den rund 230 Meter tiefen und zweitgrößten See Schottlands: Loch Ness.

Der 37 Kilometer lange schottische See Loch Ness und die Schlossruine Urquhart sind landschschaftlich viel zu reizvoll, um dort nur nach Ungeheuer Nessie Ausschau zu halten.
Foto: iStockphoto / TT

Auf den folgenden 37 Kilometern haben die meisten Passagiere nur eines im Sinn: Nessie zu sehen. Viele von ihnen haben auf dem vorderen Aussichtsdeck Position bezogen und suchen nun mit ihren Ferngläsern den See ab. Im Jahre 565 soll das Ungeheuer von Loch Ness das erste Mal gesichtet worden sein. Ein Jahrtausend lang blieb es dann verschwunden – oder vielmehr unerwähnt. Bis dato sollen rund 4.000 Sichtungen registriert worden sein. Größtenteils von der Ruine Urquhart Castle, die sich gerade an Steuerbord gegen den blauen Horizont abzeichnet.

Unkonventionelle Mannschaft

Die einzige Möglichkeit, tatsächlich einen Blick auf Nessie zu erhaschen, bietet schließlich der Souvenirshop in Fort Augustus. Spannender in dem verschlafenen Nest ist die sogenannte Himmelstreppe, eine Anlage mit fünf hintereinander gereihten Schleusen. Jede von ihnen hebt oder senkt das Wasser des Kanals um 2,4 Meter. Eine Stunde dauert die komplette Durchfahrt.

Während sich die knapp 50 Gäste auf den Weg ins Bordrestaurant begeben, hat die Lord of the Glens direkt hinter der Himmelsleiter festgemacht. Das 1985 in Griechenland gebaute Schiff wurde im spanischen Bilbao extra für den Kaledonischen Kanal umgerüstet. Nicht einmal 30 Kabinen verteilen sich über drei Decks, die achtzehnköpfige internationale Mannschaft gibt sich bodenständig und unkonventionell.

Nur ein Drittel des 97 Kilometer langen Kanals ist künstlich erschaffen.
Foto. iStockphoto / paylessimages

Am folgenden Morgen startet die Lord of the Glens zur zweiten Etappe durch den Kanal. Zwischen Loch Oich und Loch Lochy müssen Kapitän Reading und sein Erster Offizier James Forbes das Schiff mit voller Konzentration durch eine 2,5 Kilometer lange, schmale Baumallee, die Laggan Avenue, manövrieren. Kiefern, Eschen, Birken, Weiden und Vogelbeerbäume säumen den Kanal über weite Strecken. Bei Fort William schält sich Großbritanniens höchster Berg aus einer Wolkenwand, der 1.343 Meter hohe Ben Nevis. Das Durchfahren von Neptun’s Staircase, acht hintereinander liegende Schleusenkammern, stellt noch einmal eine Präzisionsaufgabe für die Crew dar.

Hochland der Kinder

Auf der Insel Mull tauchen die Passagiere ein in die Welt der schottischen Clans. Das Wort Clan bedeutet eigentlich "Kinder" und kommt vom gälischen Wort Clann. Ab dem 12. Jahrhundert schlossen sich im bergigen Hochland Schottlands größere Gruppen zusammen, die über den Familienverband hinausgingen.

Vom fjordartigen Loch Linnhe mit dem Turmhaus Castle Stalker geht es hinaus zur Insel Mull.
Foto: Getty Images/iStockphoto/elementals

Seit mehr als 700 Jahren ist das Duart Castle Hauptsitz des Clans MacLean, aktuell wird es vom 28. Oberhaupt bewohnt. Grüne Farne, die so hell leuchten, als habe jemand unter ihnen ein Licht angeknipst, prägen das Eiland. Schafe und zottelige Hochlandrinder dösen auf Weiden mit weißen Gänseblümchen und gelben Butterblumen. Die See- und Steinadler, für die die Insel berühmt ist, halten sich versteckt.

Wenn die Sonne hinter grasgrünen Bergen untergeht

Die Lord of the Glens schaukelt nun an Muck, Eigg und Rum vorbei nach Canna, dem kleinsten Eiland der Small Isles, einer Inselgruppe der Inneren Hebriden. Eine Kirche, ein keltisches Kreuz, ein paar Bauernhöfe, Kaninchen, Schafe, Rinder, ein Postamt mit roter Telefonzelle, ein Café, heller Sandstrand, dümpelnde Fischerboote und ganz viel Grün: das ist Canna. Und wie um das Idyll nahe an den Kitsch zu bringen, springen beim Ablegen zwei Delphine neben dem Bug aus dem Wasser, auf einer Sandbank räkeln sich Seehunde.

Vom Gipfel des Ben Nevis – mit einer Höhe von 1343 Metern der höchste Berg Großbritanniens – überblickt man einen Abschnitt des Kaledonischen Kanals.
Foto. iStockphoto / Peter Burnett

Als sich das Schiff der Halbinsel Knoydart nähert, warten Struan und sein Vater Ian bereits am Hafen von Inverie. Einer der philippinischen Matrosen wirft ihnen das Tau von der Lord of the Glens zu. Als Struan es um den Poller legt, leuchten seine Augen wie die Sonne, die gerade hinter den grasgrünen Bergen am Loch Nevis untergeht. Mit einem Schlag hat sein Dorf fast doppelt so viele Einwohner. (Dagmar Krappe, 28.8.2017)