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Dann die lange Rückreise im stickigen Auto. Ich hasse das. Zurück in der Stadt ist die Wohnung dann auch stickig. Klar, es wurde ja wochenlang nicht gelüftet.

Foto: Nicolas Armer / picturedesk.com

Margit Schreiner.

Foto: Pittertschatscher

Mit TEXTBEITRÄGEN von Margit Schreiner, Andreas Maier, Daniel Schreiber, Luise Maier und Tex Rubinowitz.

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Zurück in der Stadt
Von Margit Schreiner

Jedes Jahr das Gleiche, wenn wir nach zwei Monaten mit Sack und Pack vom See in die Stadt zurücksiedeln. Das Chaos fängt schon Tage vor der Abreise an. Überall die halbvollen Koffer, Taschen, Schachteln, Nylonsäcke. Die sinnlose Putzerei. Das Einsammeln der verstreuten, nachgeschickten Rechnungen, Mitteilungen, Briefe. Alles begleitet von ununterbrochenen Flüchen. Dann die lange Rückreise im stickigen Auto. Ich hasse das. Zurück in der Stadt ist die Wohnung dann auch stickig. Klar, es wurde ja wochenlang nicht gelüftet.

In der Natur stört es mich nicht, wenn alles überall herumliegt und zuwuchert. Im Gegenteil! Ich finde immer ein schönes, geschütztes Plätzchen, wo mich niemand sieht. Ich werde nicht gerne angesprochen! Aber in der Stadtwohnung? Da gibt es wenige gute Verstecke. Entweder im Kleiderschrank oder unterm Bett. Viel mehr Möglichkeiten gibt's nicht. Auch wenn alles durcheinander ist. Die herumliegende Kleidung ist mir egal, besonders die benutzte. Da leg ich mich drauf, rolle mich auf einer Unterhose ein und schlafe ein Stündchen oder zwei.

Aber die Koffer und Taschen und Schachteln und Nylonsäcke sind mir im Weg. Ich habe keine Lust, den ganzen Tag über irgendwelche Hindernisse zu springen, nur weil ich in die Küche gehen möchte oder aufs Klo. Apropos Klo. Ist auch nicht geputzt. Diesbezüglich weiß ich wenigstens, wie ich mich rächen kann. Ich pinkle ins Bett! Der städtische Straßenlärm stört auch nach zwei Monaten ganz ohne Lärm am autofreien See. Dazu kommt, dass dauernd das Telefon läutet oder der Postler, der Pakete oder Einschreibebriefe bringt. Keine Ruhe herrscht mehr.

Die wieder einmal über den Sommer vertrockneten Blumen sind auch kein schöner Anblick. Braune Blätter, die stechen, wenn man sie streift. Sie werden wie nach jedem Sommeraufenthalt am See einfach alle in den Müll geworfen. Eine sagenhafte Verschwendung! Genauso wie die verschimmelten Lebensmittel aus dem Kühlschrank und dem Vorratsschrank. Wird alles entsorgt! Kurz darauf kommt dann auch noch die Putzfrau und tobt mit dem Staubsauger durch die Wohnung. Mir bleibt dann nur der Kasten, das Bett oder der Verschlag. Manchmal sitze ich auch auf dem Dachbalken. Dort höre ich zwar alles, aber wenigstens kann mich dort niemand fangen und bürsten.

Außerdem stellt sich mir jedes Jahr nach dem Sommer wieder die Frage: Was soll ich hier? Schlafen, essen, ab und zu eine Fliege. Gut, auf die Frösche und Maulwürfe am See kann ich verzichten. Sie sind ekelhaft. Aber die vielen Mäusearten, speziell die Wühlmäuse, und die Siebenschläfer werden mir schon abgehen. Die Mäuse, weil sie erstklassig schmecken, die Siebenschläfer, weil sie eine echte Herausforderung sind. Siebenschläfer sind ungeheuer schnell. Nachdem ich einen erwischt habe, muss ich praktisch einen ganzen Tag lang schlafen, um mich von der Jagd zu erholen.

Und so ein Schlaf nach getaner Arbeit ist natürlich ganz was anderes als die Döserei in der Stadt. Alle zwei Wochen kommt der Kläffer der Nachbarin zu Besuch, den ich dann bestenfalls anfauchen kann. Das ist kein Leben. Eines Tages haue ich ab. Da suche ich mir einen riesigen Bauernhof auf dem Land mit Ställen und Scheunen, in denen ich mich verstecken kann. Oder ein altes Schloss, das keiner mehr will.

Irgendwo in der Einöde. Hauptsache Platz und keine Menschen! Und kein Telefon! Und keine Nachbarn! Ein paar Schafe wären mir egal. Auch andere Tiere. Ich würde mich von dem ernähren, was ich vorfinde. Auf gemauerten Steinbalustraden in der Wintersonne liegen oder bei Regen in einem halbverfallenen Holzpavillon auf dem Fensterbrett dösen, täglich zwei Mäuse fangen und mein Leben genießen.

Margit Schreiner ist Schriftstellerin und lebt in Linz. Zuletzt erschien ihr Roman "Das menschliche Gleichgewicht" (Schöffling, 2015).

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Foto: Bauer Jürgen / picturedesk.com

Mein liebster Ort
Von Andreas Maier

Neulich kam mein alter Wirt zurück. Sein Name tut hier nichts zur Sache, auch nicht der seiner Wirtschaft. Es handelt sich um eine Frankfurter Apfelweinwirtschaft. Diese ist einem Wiener Kaffeehaus gar nicht unähnlich, wenn du die Gemeinsamkeiten sehen gelernt hast (optisch sind beide Wirtshaustypen völlig unterschiedlich). Die Eingesessenen haben ihren Stammplatz, und einen solchen zu erhalten, dauert eine lange Weile.

Auch kommst du erst mit der Zeit an den Wirt heran. Du gehst nicht in die Apfelweinwirtschaft und glaubst, es drehe sich gleich alles um dich. Im Gegenteil. Die soziale Distinktion ergibt sich hier aus der Besuchsfrequenz. In manchen Momenten herrscht fast die Atmosphäre eines Londoner Schweigeklubs, in dem du nur Mitglied sein kannst, weil es schon dein Urgroßvater war.

Ich besuche diese Wirtschaft erst seit kurzen elf Jahren, ich habe sie viel zu spät kennengelernt, mit 39 Jahren, obgleich in der ganzen Stadt von ihr gesprochen wurde. Ich hatte eine andere Stammwirtschaft und hegte nie Interesse, neue Wirtschaften kennenzulernen. Als ich aber jene Wirtschaft zum ersten Mal betrat, wurde sie schnell mein liebster Ort (vielleicht neben Harry's Bar in Venedig). Ich tat alsbald einen Schwur: Immer wenn ich in Frankfurt war (damals wohnte ich noch dort), und jener Wirt hatte geöffnet, ging ich mindestens einmal am Tag hin. Bis heute habe ich diesen Schwur nur an einem Tag gebrochen.

Schwierig war stets Folgendes: Stipendien. Ich bin Schriftsteller und bekomme manchmal Stipendien. Die kannst du natürlich ablehnen, aber ich mochte Stipendien immer. Sie haben mir in den letzten 20 Jahren komplett das Reisen ersetzt (mein letzter Urlaub war im Jahr 1995). So verbrachte ich ein Jahr auf dem Land in Brandenburg in einem kleinen Schloss, eineinhalb Jahre auf dem Land in Niedersachsen in einem Dorf, ein paar Monate mitten im Schwarzwald, wo Hermann Hesse geboren worden war, ein Jahr in Rom, ein paar Monate in den Bergen vor Rom, ein paar in Venedig, längere Zeit im Salzburger Land und ein halbes Jahr in einem äußert schönen, großen, alten Haus mitten in einem Weinberg in der Pfalz, der Ort hatte den seltsam paradiesisch-naturalistischen Namen Edenkoben.

Das Problem hierbei war, dass ich währenddessen von meiner Wirtschaft und meinem Wirt getrennt war. Und das war immer ein großes Zurückkommen: Wenn ich nach Wochen oder Monaten zum ersten Mal wieder durch die Schwingtür in den kleinen Gastraum trat, in dem alle standen und saßen wie ehedem, und nun wusste: Das kannst du jetzt die nächsten Wochen auch wieder machen.

Aber mit der Zeit verschob sich das Phänomen des Zurückkommens. Es geht nämlich inzwischen weniger um uns Kunden bzw. mich, es geht um ihn. Er wird jetzt nämlich 85 Jahre alt. Es wurde in den letzten Jahren sowieso weniger. Im Jahr 2011 kelterte er zum letzten Mal (sein Apfelwein war der berühmteste in Frankfurt), 2013 haben wir das letzte eigene Fass von ihm getrunken, seitdem kauft er zu. Mit der Zeit ist er vergesslicher geworden, das Rechnen fiel ihm schwerer. Ich helfe ihm stets dabei, aber er reagiert mit einem gewissen Grimm auf seine zunehmende Dyskalkulie.

Inzwischen ist es so weit, dass er auch andere Dinge vergisst, mitunter auch Personen, manchmal sogar seine Angestellten, wenn er in Urlaub war. Als er neulich zurückkam aus dem Urlaub, waren wir alle glücklich, aber ich hatte doch das deutliche Gefühl, dass ihm die Situation einigermaßen fremd war. Er kam 20 Minuten zu spät nach unten in den Gastraum und sagte, er habe gar nicht gewusst, dass er heute die Wirtschaft wieder aufmache. Nach zwei Tagen nannte er mich, den für ihn vielleicht Fremden, wieder beim Namen, und so spielt es sich wieder ein, zumindest derzeit.

Und immer noch ist da das Licht, das durch die Tür auf die Täfelung fällt, und immer noch stehen oder sitzen wir alle um ihn herum, und immer noch putzt er jede Nacht seine Kupfertheke auf die gleiche Weise, bis alles wie verzaubert blinkt, aber all das geht seinem Verschwinden entgegen, irgendwann gibt es kein Zurückkommen mehr. Dann wird unsere Wirtschaft auf ewig ins Präteritum eingegangen sein. Und auf ewig angekommen sein im "Weißt du noch ...".

Andreas Maier ist Schriftsteller und lebt in Hamburg. Zuletzt erschien "Der Kreis " (Suhrkamp, 2016).

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Foto: Olaf Blecker

Dieses kleine Ritual
Von Daniel Schreiber

Ich weiß nicht mehr genau, wann es angefangen hat. Oder warum. Aber schon seit einigen Jahren bringe ich jedes Mal, wenn ich von einer längeren Reise zu mir in Berlin-Neukölln nach Hause komme, als Erstes den Koffer in meine Wohnung, schaue nach den Terrassenpflanzen und setze mich dann für zwei Stationen in die U-Bahn nach Kreuzberg, um dort bei Marie, einer meiner besten Freundinnen, und ihrer Familie vorbeizuschauen.

Viele Menschen, die ich kenne, beschreiben das Zurückkehren als ein Gefühl der Freude. Ein Bekannter von mir erzählte mir kürzlich, dass immer, wenn er mit dem Zug in den Berliner Hauptbahnhof einfährt, sein Herz etwas höherschlägt, weil ihm bewusst werde, dass er in seinem Leben am richtigen Ort angekommen sei. Ich beneide solche Menschen manchmal, heimlich versteht sich. Denn ich habe dieses Gefühl noch nie wirklich empfunden, zumindest nicht so, in dieser zufriedenen Selbstverständlichkeit.

Schon von meiner ersten Reise kurz vor dem Studium – eine Freundin und ich waren einen Monat lang mit Zelt und Rucksack durch Italien gezogen – bin ich nicht so zurückgekommen. Die prägnanteste Erinnerung, die ich von jenem Monat habe – neben römischen Ruinen, weißen Stränden, Freiluftdiscos und einem unfassbar schönen Mann, der für uns mit freiem Oberkörper Cello spielte -, spielt sich in der Tat auf dem Tegeler Flughafen ab. Ich sitze im Bus, schaue auf den wolkenverhangenen Berliner Himmel und kann nicht glauben, dass es mich wieder hierher verschlagen hat.

Unter jenem anderen Himmel

Diese Szene sollte sich in den Jahren darauf oft wiederholen, vor allem wenn ich länger als nur ein paar Tage unterwegs war. Ich möchte ob meiner Rückkehr nicht traurig werden. Ich fasse den Entschluss, den grauweißen Berliner Himmel einfach nicht zu beachten. Ich packe sofort nach dem Nachhausekommen den Koffer aus, werfe die Wäsche in die Maschine und tue so, als wäre ich bereit, durchaus optimistisch auf die kommenden Tage zu schauen. Doch dann holt mich die Rückkehrtraurigkeit wieder ein. Ohne Ausnahme. Eine Art intensiven Fernwehs. Ich fühle mich, als wäre eben ein kleiner Teil von mir gestorben, jener Teil, den ich in dem anderen Land in mir entdeckt hatte, in der anderen Stadt, in jenem anderen Klima, unter jenem anderen Himmel.

Bis sich dieses kleine Ritual eingestellt hat. Ich glaube, es hat sich aus der einen oder anderen Notwendigkeit heraus ergeben. Ein Schlüssel, der abgeholt werden musste; ein Treffen, das man bei sich überschneidenden Terminkalendern nur auf diesen Abend legen konnte. Ich kenne Marie, seit ich 19 bin. Jedes Vortäuschen, dass es mir besser gehe, als es mir geht, ist da nicht nötig oder auch nur möglich. Ich habe ihren britischen Partner ins Herz geschlossen und ihren kleinen Sohn, mein Patenkind.

Meistens komme ich gerade noch rechtzeitig, um mir die neuesten Spielzeuge, Bücher und Stofftiere zeigen zu lassen und mit den dreien gemeinsam zu Abend zu essen. Diese Abende sind das, worauf ich mich am meisten freue, wenn ich nach Hause zurückkehre. Es ist die alltäglichste und familiärste Nähe, die ich in meinem Leben kenne. So oft sind es Menschen, die uns an Orte binden, nicht die Orte selbst. Es tut gut, sich daran zu erinnern, warum man dort lebt, wo man lebt.

Daniel Schreiber ist Autor und lebt in Berlin. Zuletzt erschien "Zuhause " (Hanser, 2017).

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Foto: Nora Longatti

Wäre das Wort ein Gegenstand
Von Luise Maier

Zurückkommen tut weh. Das sieht man dem Wort schon an: Das Z am Anfang und das zweifache K in der Mitte bieten mit ihren Ecken und Kanten keinen Komfort.

Zurückkommen tut weh. Es ist wie das Knie meines Vaters: Als Kind wollte ich, bis ich fünf Jahre alt war, immer noch bei meinem Vater im Bett schlafen. Er musste mich jedes Mal zurückschicken. Er sagte zu mir, ich sei schon zu groß, um bei ihm zu schlafen. Ich schlich mich zurück in sein Bett, aber da hatte er sich schon so hingelegt, dass er das eine Knie bis an den Bauch angezogen hatte und mir somit die Kuhle vor seinem Bauch verwehrt blieb.

Zurückkommen tut weh, so wie bei dem Tsunami an der Küste von Phuket: Das Wasser zog sich vom Ufer zurück, und die Menschen, die am Strand waren, liefen dem Wasser hinterher – so weit, bis der Strand aufhörte und der Meeresboden schon anfing. Dann kam die Welle mit einem Schlag zurück und schluckte die Menschen unter sich, als wären sie nichts weiter als Sandkörner. Manche von den Menschen, die die Welle geschluckt hatte, kamen auch zurück: Sie lagen dann wie Wachsfiguren am Strand zwischen den Trümmern, die Arme von sich gestreckt, als würden sie gerade zu einer großen Verbeugung ansetzen.

Zurückkommen tut weh, so wie der Traum, den ich über Jahre nicht abschütteln konnte und der mich regelmäßig in den Nächten heimsuchte: Ich träumte, ich wäre hochschwanger, aber als ich gebar, war das Kind klein wie eine Larve und weiß wie eine Mandel, der man die Haut abgezogen hatte. Bei jedem wiederkehrenden Traum hatte das Kind ein Augenpaar mehr, bis es irgendwann so von Augenpaaren überzogen war, dass ich dachte, ich würde laichen statt gebären.

Zurückkommen tut weh. Es ist wie das Pfeiffersche Drüsenfieber, dessen Symptome weggehen, dann wieder auftauchen, dann wieder weggehen, wieder auftauchen, weggehen, auftauchen, weggehen, auftauchen. So lange, bis der Mensch, der das Virus in sich trägt, geschwächt ist – nicht vom eigentlichen Virus selber, sondern davon, nicht mehr zu wissen, was gilt.

Das ist das eigentlich Perfide am Zurückkommen: Man weiß nicht, woran man sich noch festhalten kann. Wäre das Wort ein Gegenstand und würde man versuchen, sich daran festzuhalten, würde man sich am Z und an den Ks verletzen.

Aber da gibt es ja noch das O und die das doppelte M. Das O, auf dessen Linie man entlangfahren kann, ohne je vom Weg abkommen zu können. Das M, das so weich klingt und von dem manche Zungen behaupten, es wäre nicht einer der ersten Buchstaben eines Babys, weil seine Bezugsperson mit M anfängt, sondern weil es ein Laut des Behagens ist.

Zurückkommen muss nicht wehtun, so wie das Zurückkommen nach einem langen Tag in die stille Wohnung, die den ganzen Tag nichts getan hat, außer auf einen zu warten, oder das stetige Wiederkehren der Jahreszeiten, von denen man glaubt, sie vergessen zu haben und die dann jedes Mal aufs Neue ihren Zauber ausbreiten, oder das Zurückkommen eines Menschen, von dem man sich gerade verabschiedet hat und der sich, eigentlich schon weggedreht und weggegangen, noch einmal umdreht, zurückkommt und noch einmal eine letzte Umarmung, einen letzten Kuss einfordert.

Luise Maier ist Autorin und lebt in Biel. Ihr Debüt "Dass wir uns haben" (Wallstein) erschien 2017.

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Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Dirty Black Summer
Von Tex Rubinowitz

Mein Sommer war vielleicht wie der gleichnamige Song von Danzig, Dirty Black Summer. Das, was man gemeinhin als Sommer bezeichnet, also Hitze, Luftmatratze, Hautkrebs und Bremsen, findet meistens ohne mich statt, weil meiner bereits davor endet, wenn die Gehirnentkernten aus ihren Löchern kriechen, ich kann Hitze nicht leiden, ich hasse Menschenzusammenballungen und bade ausschließlich kalt.

Das einzig Gute am Sommer sind dann doch die Bremsen, ich muss immer so lachen, wenn ich sie sehe, sie sind so augenscheinlich dumm, denn weil sie als Hautflügler nur so eine klitzekurze Lebenszeit haben, ein logisches Programm zu entwickeln, um an die evolutionäre Spitze zu kommen (ich wollte es nicht, aber das Bild zu Donald Trump drängt sich reflexartig auf, nicht mir, sondern meinem dummen Unterbewusstsein, ich find ihn ja ganz okay, so als vorhersehbaren Evolutionskollateralschaden), also über das Jahr ein dumpfes Dasein als Eier und Larven oder was auch immer (Spechte gar) fristen, ist ihre Jagd nach Blut demzufolge auch unzureichend ausgebildet, sie landen auf ihrem Blutacker zwar samtpfotig leise, man spürt sie nicht, Fliegen etwa sind spürbarer, aber dafür reaktioneller und können kopfüber an der Decke landen und mit großer Freude ohne Unterlass mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe knallen, sie lieben das, dagegen sind die Bremsen leider nur Tölpel, keine Reflexe und offenbar blind, ich liebe es, mich von ihnen anzapfen zu lassen, dann sind sie noch schwerer und betrunkener und naturgemäß minderhirniger, ich fange sie, das geht leicht, schüttle sie in der hohlen Hand bewusstlos und werfe sie in das Netz meiner Lieblingsspinne, die in der einen Ecke meines kleinen Häuschens im verfluchten Hallstatt ein wunderschön symmetrisches Netz gesponnen hat, eine wahre Künstlerin, auch wenn bekanntlich Symmetrie die Kunst der Armen ist, ich beobachte sie, wie sie blitzschnell die Bremse mit einem klebrigen Faden, den sie mit ihren Hinterbeinen aus ihrem Arsch zieht, umwickelt, während sie sich mit den anderen Beinen oder Armen am Netz festhält, und das Paket dreht und gleichzeitig auch noch mit den anderen Gliedmaßen in der Lage ist, ein Sodoku zu lösen, blitzschnell, während sie eine Zigarette, die ihr von der Bremse angeboten wird, ablehnt, um dann ihrem verschnürten Opfer den Todeskuss zu geben (Nikotinküsse schmecken nicht, wie sie sagt, und die generöse letzte Zigarette sei sowieso nur eine Farce, mit dem sich der Exekutor das Gewissen reinzuwaschen versucht).

Heiß wie ein heißer Brei

Später trinkt sie die überrumpelte Bremse, also mein Blut, aus, und ich stelle mir so ein umgekehrtes Spider-Man-Szenario vor, in dem nicht der Mensch (Peter Parker) durch den Kuss der Spinnenfrau ihresgleichen Kräfte bekommt, sondern dass durch mein Blut, interimistisch in eine Bremsenflüssigkeit transformiert, die Spinne, die ich Irma nenne, weil das der schönste Frauenname der Welt ist, so werde wie ich, also ein Donnerclown mit Brille, und weil Irma acht Augen hat, hat die Brille natürlich auch acht Gläser mit acht Dioptrien, wie ich sie habe, das ist für den Optiker auch leichter zu merken beziehungsweise zu kombinieren, denn Optiker sind bekanntlich noch dümmer als Bremsen.

Und dann kann die Ich-Spinne gar nichts, trinkt Bier und hört Danzig, sieht allenfalls alle 18 Folgen von Twin Peaks, die dritte Staffel, ist umgehauen von der achten Folge, in der erklärt wird, wie das Böse und das Gute auf die Erde gekommen sind, eine Stunde Schöpfungsgeschichte, eine Atomexplosion, ein Ei in einer Wüste, aus dem eine Froschmotte schlüpft und einem unschuldigen amerikanischen Mädchen, das schläft, in den Mund krabbelt, und so beginnt es, und ich als die Ich-Spinne lecke mir die Lippen und denke, ja, das war mein Sommer, ich hab ihn nicht mitbekommen, ich hab gehört, dass er heiß wie ein heißer Brei war, ich hab ein paar Bremsen gefüttert, die ich gleich an Kreuzspinnen weiterverfüttert habe, und ich hab Twin Peaks gesehen, 18 Stunden, die gewaltigste, metaphysischste und transzendentalste Serie aller Zeiten, wer etwas anderes behauptet, muss sofort zum Arzt, und der Arzt ist dann kein Arzt, sondern eine Bremse, die deshalb so unerfolgreich ist, weil sie nur an das dumme Blut will und auf den Leckerbissen, die Seele, verzichtet, und dann kommt Irma die Spinne, und zuzelt sie aus, frisst zusätzlich ihre eigenen Kinder, die sie mit ihrem schwächlichen Mann bekommen hat, den sie obendrein nach dem Orgasmus verputzt, was für eine Ordnung, da funktioniert das Matriarchat, und Irma kann auf so eine hohle Phrase wie den Feminismus nur spucken, und sie würde auch Binnen-Is zum Frühstück fressen, und mich, und mein Blut, also in diesem schwarzen, dreckigen Sommer, aber der ist ja nun Gott sei Dank vorbei.

Tex Rubinowitz ist Schriftsteller und Zeichner. Zuletzt erschien sein Roman "Lass mich nicht allein mit ihr " (Rowohlt, 2017).

(Margit Schreiner, Andreas Maier, Daniel Schreiber, Luise Maier, Tex Rubinowitz, Album, 26.8.2017)