Aqil: "Ich habe keine Angst. Manchmal attackieren uns diese Monster, um uns zu beweisen, dass wir nicht sicher seien."

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Masoud Aqil, "Mitten unter uns". € 19,50 / 256 Seiten. Europa- Verlag, 2017

STANDARD: Wie geht es Ihnen?

Aqil: Gut.

STANDARD: Können Sie nachts schlafen?

Aqil: Ja, vier Stunden in guten Nächten. Sieben sind ein Glück.

STANDARD: In Ihrem Buch haben Sie Ihre Zeit als Gefangener des IS ebenso geschildert wie die Flucht nach Deutschland und den Schock, als Sie ehemalige IS-Leute in Flüchtlingslagern trafen. Wie ging es Ihnen beim Schreiben?

Aqil: Für den Teil über meine Zeit im Gefängnis habe ich zwei Monate gebraucht. Ich versuchte meine Erinnerungen durchzugehen, mit allen schmerzhaften Details. Danach fiel ich in eine Depression. Ich habe eine Pause eingelegt, dann weitergemacht.

STANDARD: War das Schreiben eine Art von Therapie?

Aqil: Am Ende schon, dazwischen war es schmerzhaft. Erinnerungen an meine Mitgefangenen kamen hoch, von denen viele Freunde wurden. Leute, denen der Kopf abgehackt wurde. Bei anderen habe ich mich gefragt, wo sie jetzt sind.

STANDARD: Etwa Ihr Arbeitskollege, mit dem Sie für einen kurdischen TV-Sender einen Bericht machen wollten, als Sie vom IS gekidnappt wurden. Er kam nicht mit Ihnen frei. Wissen Sie etwas über ihn?

Aqil: Leider nicht. Ich habe ihn zuletzt im März 2015 getroffen. Wir hatten eine gemeinsame Zelle, wurden dann aber getrennt. Am Tag meiner Freilassung war ich alleine. Das war ein Schock. Ich hätte glücklich sein müssen, aber ich konnte es nicht.

STANDARD: Wie kam es zu der Entführung?

Aqil: Wir berichteten für einen kurdischen Sender von der Front. Am 15. Dezember 2014 wollten wir ein Interview mit einem Stammesführer machen. Mein Kollege Farhad saß am Steuer, ich schlief auf dem Beifahrersitz. Südöstlich von Qamischlo gerieten wir in eine Straßenkontrolle des IS. Als er mich aufweckte, waren die mit Maschinengewehren und Bomben bewaffneten IS-Leute nur noch Meter entfernt. Es war klar, dass wir nichts tun konnten. Es war für sie ein Leichtes, uns zu entführen und in das von ihnen kontrollierte Gebiet zu bringen.

STANDARD: Welche Gedanken kamen Ihnen in diesem Moment?

Aqil: Ich hatte seltsamerweise keine Angst, ich habe nichts gespürt und wie ein Außenstehender zugesehen. Ich habe auf Details geachtet, ihr Gewand, ihre Augen. Damals war ich überzeugt, dass es der letzte Augenblick meines Lebens sein müsste, weil sie mir sofort den Kopf abschlagen würden. Stattdessen brachten sie uns in ein Gefängnis, wo wir verhört wurden. Aber ich wusste, dass sie uns jederzeit töten könnten, und das haben sie auch demonstriert: Sie haben uns ein Messer an den Hals gehalten, ein Gewehr gegen die Schläfe. Sie wollten uns ihre Macht demonstrieren.

STANDARD: Die IS-Truppen hatten Ihre Ausrüstung konfisziert. Auf ihren Smartphones konnten sie lesen, was Sie auf Twitter über den IS geschrieben hatten. Dennoch ließ man Sie am Leben. Waren Sie als Journalisten wertvoll?

Aqil: Wäre ich ein normaler Bürger gewesen, hätten sie mich auf der Stelle umgebracht. Damals wurde ein junger Mann enthauptet, weil er per Facebook-Chat mit einer Frau geflirtet hat. Ich aber hatte als Journalist ein Twitter-Profil und habe gegen den IS angeschrieben: in der Hoffnung, dass wir sie eines Tages loswerden. Sie wussten sofort, wer wir waren. Obwohl ich mich nicht als besonders wichtigen Journalisten sah, war ich es für sie. In dieser Zeit begannen kurdische Truppen den IS anzugreifen, sie stießen immer weiter vor. Die kurdischen Truppen hatten an die 600 IS-Leute gefangen, während nur wenige Kurden in IS-Gefangenschaft waren. Das machte uns wertvoll in Bezug auf einen künftigen Gefangenenaustausch.

STANDARD: Dennoch mussten Sie während der gesamten Gefangenschaft um Ihr Leben bangen?

Aqil: Ja, ich wurde zum Tod durch Enthauptung verurteilt, und sie haben meinen Fall nicht mehr neu aufgerollt.

STANDARD: Gibt es innerhalb des IS so etwas wie ein Rechtssystem?

Aqil: Sie tun so, als ob es eines gäbe – auch mit Blick auf westliche Medien, um zu zeigen, dass es sich um einen Staat handle. Natürlich gibt es das nicht, weil viele Gefangenen auf der Stelle umgebracht werden. Manche, wie ich, wurden aber vor ein sogenanntes Gericht gestellt.

STANDARD: Wie darf man sich das vorstellen?

Aqil: Ich konnte nichts sehen, weil mein Gesicht verhüllt war. Sie sagten: Das Urteil lautet Enthauptung. Sie wollten mir zeigen, wie viel Macht sie besitzen. Für sie war es ein Spiel, wie in diesen Hollywoodfilmen, wo der Bösewicht mit seinem Opfer redet, um es am Ende doch zu töten.

STANDARD: Nach neun Monaten in verschiedenen Gefängnissen kamen Sie im Zuge eines Gefangenenaustauschs frei.

Aqil: Ich hätte nie damit gerechnet, dass sich IS-Leute und Kurden treffen könnten, ohne aufeinander zu schießen. Aber so kam es. Es lief über arabische Vermittler, die zu keiner der beiden Seiten gehörten. Beide Seiten legten ihre Waffen ab und kamen einander näher, bis zwischen ihnen nur noch 1000 Meter waren. Dann begann der Austausch der Geiseln.

STANDARD: Wie würden Sie Ihre Wärter beschreiben – als psychisch krank?

Aqil: Auf jeden Fall. Wer einem anderen Menschen den Kopf abschlägt oder bereit ist, das zu akzeptieren, ist krank. Als Gefangene mussten wir uns die Videos davon immer wieder ansehen. Das machte ihnen Spaß. Diese Menschen sind Bastarde, Idioten und Monster. Ich habe Probleme zu glauben, wenn einige von ihnen zurückkehren und behaupten, dass sie ihre Leben geändert haben und nun gute Menschen sind.

STANDARD: Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass viele IS-Solda-ten drogenabhängig sind. Um die Grausamkeiten zu ertragen?

Aqil: Manche brauchten keine Drogen. Sie brauchten Religion, es hatte denselben Effekt.

STANDARD: Obwohl Sie nicht religiös sind, haben Sie im Gefängnis den Koran 62 Mal gelesen. Half Ihnen das?

Aqil: Nein, und schon gar nicht in dieser Situation. Ich habe den Koran gelesen, weil es in meiner Zelle nichts anderes gab. Es half mir, mein Arabisch zu verbessern und meine Wärter besser zu verstehen.

STANDARD: Wie schafft man es, während einer Gefangenschaft nicht durchzudrehen?

Aqil: Jeder von uns hat Filme gesehen oder Bücher gelesen, in denen ein Typ von seinen Feinden eingesperrt wird. Als Außenstehende hoffen wir, dass er stark bleibt, nicht aufgibt. Wenn mich meine Freunde eingesperrt hätten, dann hätte das bei mir vielleicht zu Depressionen geführt. Wie konnten sie mir das antun? Aber das waren Feinde, meine Gefangenschaft war das Resultat des Hasses, den sie mir entgegenbringen. Also wusste ich, dass ich stark bleiben musste, nicht aufgeben durfte. Ich versuchte die Gefangenschaft als eine Chance zu begreifen, um später davon erzählen zu können.

STANDARD: Während der Zeit Ihrer Gefangenschaft gab es zahlreiche IS-Attentate. Wie haben Sie davon erfahren?

Aqil: Man hat es uns angekündigt, etwa den Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Später kamen sie mit ihren Smartphones und zeigten uns, was sie getan hatten. Da wurde mir klar, dass diese Bastarde in Europa waren. Damals habe ich mir allerdings keine großen Gedanken darüber gemacht, ich war zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt.

STANDARD: Später, als Flüchtling in Deutschland, haben Sie herausgefunden, dass mit Ihnen IS-Leute nach Europa kamen. Wie kam das?

Aqil: Das ist kein Geheimnis. Jeder Flüchtling wird Ihnen das bestätigen. Ich habe davon gehört und Informationen gesammelt: über das Internet und befreundete Journalisten in meiner Heimat. Ich bin hergekommen, um diese Leute loszuwerden, und muss sehen: Sie sind auch hier. Ihr Ziel ist es, die tolerante europäische Gesellschaft zu zersetzen. Durch Terrorangriffe oder indem sie junge Menschen radikalisieren.

STANDARD: Ist es dem IS bewusst, dass er Rechten und Rechtsextremen in Europa in die Hände spielt?

Aqil: Ich glaube nicht, dass sie so weit denken. Das sind keine Intellektuellen. Sie wissen, dass sie Europa attackieren müssen, damit Menschen hier Angst bekommen.

STANDARD: In Ihrem Buch kritisieren Sie das syrische Regime und die Türkei unter Erdogan.

Aqil: Der IS ist ein Geschöpf Assads und anderer arabischer Diktatoren. Alle heutigen Führer wurden 2011 aus ihren Gefängnissen entlassen. Damals hätte der Westen Assad noch absetzen können, heute geht das nicht mehr. Palmyra zum Beispiel konnte vom IS nur erobert und zerstört werden, weil sich die syrischen Truppen zurückgezogen haben. Das war ein Trick Assads. So konnte er sich als Retter vor dem Terrorismus in seinem Land präsentieren. Auf einmal war er der Unschuldige.

STANDARD: Müssen Sie hier in Europa um Ihr Leben fürchten?

Aqil: Ich habe keine Angst. Wir leben hier in einer freien Gesellschaft. Manchmal attackieren uns diese Monster, um uns zu beweisen, dass wir nicht sicher seien. Aber wir sollten ihnen nicht glauben, denn sonst haben sie ihr Ziel erreicht. (Wolfgang Rössler, Album, 27.8.2017)