Oldenburg – Der ehemalige deutsche Krankenpfleger Niels H. hat nach neuen Erkenntnissen mindestens 90 Morde an schwerkranken Klinikpatienten begangen. Das gaben die Ermittler der Sonderkommission Kardio aus Staatsanwaltschaft und Polizei am Montag bekannt. Die Ermittlungen seien aber nicht völlig beendet.

Noch stehen etwa die Ergebnisse der toxikologischen Analysen von 41 exhumierten Patienten aus. Nach Angaben der Ermittler handelt es sich um einen in der deutschen Kriminalgeschichte einmaligen Fall. Die Dimension der Verbrechen mache "fassungslos", sagte Oldenburgs Polizeipräsident Johann Kühme. Er betonte, dass die Gesamtzahl der Taten noch viel höher sein könnte, aber nicht mehr sicher nachweisbar sei.

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Wollte sich als Held präsentieren

Der verurteilte Patientenmörder könnte demnach für die größte Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte verantwortlich sein. Wegen sechs Taten sitzt der ehemalige Pfleger bereits lebenslang in Haft. Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres will die Staatsanwaltschaft erneut Anklage erheben.

Der 40-Jährige beging seine Taten in Krankenhäusern in Delmenhorst und Oldenburg, wo er unter anderem auf einer Intensivstation tätig war. Er verabreichte Patienten verschiedene Medikamente, um sie in Lebensgefahr zu bringen und anschließend wiederbeleben zu können. Viele überlebten diese Prozedur nicht. Damit wollte H. sich vor Kollegen als heldenhafter Retter beweisen.

130 Patienten wurden exhumiert

Mehr als 130 frühere Patienten der beiden Kliniken ließ die Sonderkommission der Polizei in den vergangenen drei Jahren ausgraben und auf Rückstände von Medikamenten testen. "Die Erkenntnisse, die wir dabei gewinnen konnten, erschrecken noch immer – ja, sie sprengen jegliche Vorstellungskraft", sagte Polizeipräsident Kühme.

Der Krankenpfleger Niels H. auf einem Archivfoto aus dem Februar 2015.
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"Nur die Spitze des Eisberges"

Bei 48 Patienten in Delmenhorst und 36 in Oldenburg wurden die Ermittler fündig. Die tatsächliche Zahl der Verbrechen liege aber um ein Vielfaches höher, sagte Soko-Leiter Arne Schmidt. "Die Morde, die wir belegen können, sind nur die Spitze des Eisberges."

Allein am Klinikum Delmenhorst seien mehr als 130 Patienten, die während einer Schicht von H. starben, eingeäschert worden. Ein Nachweis sei bei ihnen nicht mehr möglich. Die Polizei löst die Sonderkommission jetzt auf, die Ermittlungen laufen aber weiter.

Aufgrund der inzwischen vorliegenden Informationen gehen die Ermittler davon aus, dass H. den ersten nachweisbaren Mord bereits im Jahr 2000 und nicht erst 2003 beging. Die Serie endete 2005 mit seiner zwischenzeitlichen Festnahme.

Viele Morde hätten verhindert werden können

In Verhören im Gefängnis hat H. die Taten in Delmenhorst und Oldenburg eingeräumt. Offen bleibt laut Schmidt, ob er in vollem Umfang geständig sei und sich überhaupt an alle Taten erinnern könne. So bestreite H., dass er auch Patienten an anderen Arbeitsstätten – als Rettungssanitäter und als Pfleger in Altenheimen – eine Überdosis Medikamente gespritzt hat. Diesen Verdacht würden aber Zeugenaussagen nahelegen. Die Patienten starben in diesen Fällen allerdings nicht.

Fest steht für die Ermittler, dass ein großer Teil der Morde hätte verhindert werden können. Schon am Klinikum Oldenburg gab es eine Statistik, die zeigte, dass während H.s Schicht die Sterberate und die Zahl der Reanimationen stieg.

Diese Statistik war laut Schmidt auch der damaligen Geschäftsführung bekannt. Wären die Verantwortlichen deshalb zur Polizei gegangen, wäre es zu den Morden an der späteren Arbeitsstelle in Delmenhorst gar nicht gekommen. Stattdessen trennte sich das Klinikum von dem Pfleger und stellte ihm sogar ein gutes Arbeitszeugnis aus. Eine Warnung an das Klinikum Delmenhorst blieb aus.

Anklage wegen Totschlags durch Unterlassung

Auch in Delmenhorst gab es bald Gerüchte, weil auffällig viele Patienten während H.s Schicht starben. Später lagen auch handfeste Beweise vor. Zwei frühere Oberärzte und der Stationsleiter werden deshalb wegen Totschlags durch Unterlassen vor Gericht stehen. Die Ermittlungen gegen Verantwortliche am Klinikum Oldenburg laufen noch. (APA, AFP, 28.8.2017)