Ossiach – Führt ein Sommerurlaub in Kärnten zu Euphorie oder zu Depressionen? Johannes Brahms hat diese wahrscheinlich einfach überspitzte Frage in seiner 2. Sinfonie, die man auch die "Kärntner" nennen könnte, sehr ambivalent beantwortet. Wenigstens hat die Wiener Brahmspflege diesen Eindruck erweckt. Wenn, mit mächtigem Apparat, jedes Panorama zu einem Elysium und jedes Gewitter zu einem Inferno hochstilisiert wird, muss sich ja ein eschatologisches Patt ergeben.

Im südlichsten Bundesland hat sich die neue, jede romantische Dramatisierung vermeidende, unpathetisch der historischen Quellenlage folgende Brahms-Interpretation Markus Poschners und seines Orchestra della Svizzera Italiana also geradezu aufgedrängt. Mit dieser erstmals in Österreich erklingenden, durch und durch "entfesselten" Musik hat sich der heurige Carinthische Sommer am Wochenende nach einer sehr originellen Saison passend und überaus erfolgreich verabschiedet.

Poschner, der im Herbst die Leitung der Linzer Oper und des Brucknerorchesters übernimmt, hat alle vier Sinfonien von Brahms "wiedergelesen", wie er es nennt. Mit einem nicht an Wien, sondern an den Größenverhältnissen von Meiningen (dem Thüringer Ort, wo die "Vierte" uraufgeführt wurde) orientierten Orchester wird die Anknüpfung der Werke an die Klassik verdeutlicht. Gewissermaßen noch einmal "edle Einfalt und stille Größe", in extremer klanglicher Transparenz und, angesichts der Entstehungszeit zwischen 1862 und 1885, selbstverständlich schon mit harmonischen Kühnheiten, die auf die musikhistorischen Umbrüche des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorausweisen. Es hat etwas Handwerkliches, wie der Dirigent seine 50 Instrumentalisten niemals ins Schwelgen entlässt, sondern im Glauben darin befestigt, dass die technisch perfekte Umsetzung der Noten genügt, um das Publikum für den so existenznahen Erfahrungskosmos des Komponisten zu begeistern.

Hatte der erste Abend aufgrund der Ungewohntheit des Hörerlebnisses vielleicht noch etwas überrascht, so gelang es Poschner und dem einzigen Radio-Orchester der Schweiz am Samstag, mit den Sinfonien 3 und 4 alle Bedenken gegen ihre Lesart restlos zu zerstreuen. Mit einem stürmischen und hochverdienten Beifall klang der Carinthische Sommer 2017 aus.

Er habe Poschner und das Schweizer Orchester eigentlich nur wegen ihres Mutes engagiert, ungewohnte Wege zu beschreiten, sagte Intendant Holger Bleck am Rand der Konzerte zum STANDARD. Das muss man ihm nach diesem ebenso schönen wie abwechslungsreichen Sommer lassen: Er hat eine ansteckende Neugier in das Kärntner Kulturleben gebracht. (Michael Cerha, 28.8.2017)