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Kampf gegen die Überschwemmungen in Houston.

Foto: AP / Charlie Riedel
Grafik: DER STANDARD

Sylvester Turner muss sich bohrende Fragen gefallenlassen. Während Houston im Katastrophennotstand lebt, scheiden sich die Geister am Bürgermeister der Stadt. Der hat sich gegen eine frühzeitige Evakuierung entschieden – wie er nach wie vor glaubt, aus guten Gründen.

Als sich Harvey der texanischen Golfküste näherte, riet Turner davon ab, sich ins Auto zu setzen und das Weite zu suchen. Es gebe keinen Grund, sich auf der Straße in noch größere Gefahr zu begeben, während ringsum Bäume umstürzten, hatte der frühere Rechtsanwalt am Freitag gewarnt, kurz bevor der Hurrikan das Festland erreichte. Es folgten überraschend heftige Überschwemmungen und improvisierte Rettungsaktionen.

Es folgte das Nervenspiel in einem Altersheim, in dem sich die ganze Dramatik bündelte. In Dickinson, einer Satellitenstadt am Rande Houstons, saßen die Bewohner der Seniorenresidenz La Vita Bella auf einmal bis zu den Hüften im Wasser. Jemand fotografierte die Szene, der Schwiegersohn der Heimbetreiberin verbreitete das Bild via Twitter.

"Brauchen dringend Hilfe. Bitte weiterverbreiten", schrieb Timothy McIntosh am Sonntag. 18 Eingeschlossene, die meisten Frauen, wurden aus höchster Not gerettet, während anderswo Tausende vergeblich versuchten, in der überlasteten Notrufzentrale Alarm zu schlagen. Oder vertröstet werden mussten, falls sie jemanden erreichten. Obwohl Privatleute mit Booten halfen, konnte zunächst längst nicht jeder in Sicherheit gebracht werden. Deshalb steht Sylvester Turner in der Kritik.

Houston, verteidigt er sich, habe 2,3 Millionen Einwohner, der ganze Ballungsraum über sechs Millionen. Alle gleichzeitig aufzufordern, sich auf die Straße zu begeben, wäre falsch gewesen, sagt der Bürgermeister. "Ich denke, diese Lektion haben wir nach Rita gelernt."

Die Erinnerung an Wirbelsturm Rita ist wohl der Hauptgrund, warum niemand eine Evakuierung empfahl. Als Rita im September 2005 auf Houston zusteuerte, riet Turners Vorgänger den Leuten, die Stadt zu verlassen. Kurz zuvor hatte Katrina in New Orleans die Dämme brechen lassen. Über zwei Millionen Gewarnte machten sich auf den Weg, auf den Autobahnen staute sich kilometerweit der Verkehr, es gab Unfälle und Schlägereien, die Sommerhitze führte dutzendfach zu Hitzeschlägen. "Vielen von uns steckt das noch in den Knochen", sagt Turner.

Sturm zog nicht weiter

Dass Harvey derart schwere Überflutungen verursachen konnte, liegt zum einen an der Großwetterlage: Statt ins Landesinnere zu ziehen, bewegt sich der Sturm kaum vom Fleck. Seit Samstag liegt die Front über dem Küstengebiet. Bevor sie abgezogen ist, werden nach Prognosen des Nationalen Wetterdiensts in manchen Vierteln Houstons 1,30 Meter Regen gefallen sein. Rund 30.000 Menschen mussten in Notunterkünften untergebracht werden.

Experten sprechen auch von einem Betonisierungseffekt. Houston gehört zu den am schnellsten wachsenden Städten in den USA, pro Jahr kommen etwa hunderttausend zusätzliche Bewohner hinzu. Neue Straßen und Parkplätze werden errichtet, die Einfamilienhaus-Monotonie dringt immer weiter ins Umland vor. Wo das Wasser vor 20 Jahren noch versickern konnte, ist heute Beton. Fatal für eine Stadt, die wegen Flüssen und Bayous ohnehin überschwemmungsanfällig ist.

Für den US-Präsidenten wie-derum bedeutet die Naturgewalt, dass er sich im eigenen Land erstmals in der Rolle des obersten Krisenmanagers bewähren muss. Damit verbindet sich zwangsläufig die Frage, ob Harvey so etwas wie Donald Trumps Katrina wird.

"Doing a heck of a job"

Das Desaster in New Orleans markierte den Punkt, von dem an es für George W. Bush nur noch bergab ging. Unvergessen, wie überschwänglich er den überforderten Chef der Katastrophenschutzbehörde Fema lobte, einen Juristen namens Michael Brown. "Brownie, you're doing a heck of a job": Kein Sturm, bei dem Spötter nicht an diesen Satz Bushs erinnern.

Schon die Vorgeschichte erklärt, auf welch dünnem Eis sich Trump nunmehr bewegt. Was ihn nicht davon abhielt, Loblieder auf Brock Long, den aktuellen Fema-Direktor, zu singen. "Sie machen einen großartigen Job – Die Welt schaut zu!", twitterte er am Samstag. Da war das wahre Ausmaß der Zerstörung nur zu erahnen. (Frank Herrmann aus Washington, 28.8.2017)