Anhand von Games des Indie-Studios The Chinese Room (hier "Dear Esther") erforscht Felix Schniz die Erfahrungswelt von Computerspielen.

Foto: The Chinese Room

Klagenfurt – Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vergangene Woche erstmals in Köln die Gamescom eröffnet – die größte Computerspielemesse der Welt. Dabei haben vor nicht allzu langer Zeit Politiker wohl noch gemeint, sich auf einer solchen als Nerd-Zusammenkunft verschrienen Veranstaltung im Wahlkampf nicht blicken lassen zu müssen.

Auch dieser Besuch zeigt: Computerspiele sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Einer neuesten Studie des Digitalverbands Bitkom zufolge sind 43 Prozent der deutschen Bevölkerung im Alter von über 14 Jahren Computerspieler – anteilsmäßig ungefähr gleich verteilt auf beide Geschlechter. Die Industrie macht damit Milliardenumsätze, Budgets für Spiele übertreffen längst die Ausgaben von Hollywoodproduktionen.

"Immer noch Pionierarbeit"

Trotz seiner wachsenden Bedeutung wurde dieser Gegenstand bisher noch recht wenig untersucht, berichtet Felix Schniz, Doktorand am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt: "Vom Forschungsfeld der Video Game Studies kann man erst seit ungefähr 15 bis 20 Jahren sprechen. Zu Videospielen zu forschen ist immer noch große Pionierarbeit. Da gibt es weiterhin viele ungeklärte Fragen."

Computerspiele dagegen existieren schon fast 40 Jahre länger. Dass die Geisteswissenschaften diesen Untersuchungsgegenstand dennoch lange Zeit ignoriert haben, liegt vermutlich an einer irrtümlichen Wahrnehmung, die der Wissenschaftsbetrieb mit dem Großteil der Erwachsenenwelt teilte: Videospiele galten häufig als infantiles Nischenhobby und daher einer tiefergehenden Analyse nicht würdig. Das sei aber zu kurz gegriffen, meint Schniz, der sich in seiner Dissertation mit Erfahrungserlebnissen in Computerspielen beschäftigt.

Mehr als ein Konsumprodukt

Hier bestehe nämlich ein großes Potenzial – insbesondere für kulturwissenschaftliche Untersuchungen: "Viele sehen Videospiele immer noch als reine Konsumprodukte. Es wird aber oft vergessen, dass auch sie Ausdruck kulturellen Schaffens sind. Dahinter steckt nämlich ein Entwicklerteam mit einem kulturellen Hintergrund, den es bewusst oder unterbewusst in das Spiel einfließen lässt und somit dem Spieler eine bestimmte Weltdarstellung vermittelt."

Da sich das Fach nach akademischen Maßstäben erst im Vorschulalter befindet, gebe es laut Schniz noch viele ungeklärte Fragen. Der Theoriekanon ist bis dato sehr klein, und auch auf dem Gebiet der Methodik befindet sich einiges im Ungefähren. Die Dokumentation von Belegen ist aufgrund der Struktur und der Gesetzmäßigkeiten des Mediums alles andere als einfach. Ein Problem ist derzeit auch, dass es noch keine einheitlichen Zitationsregelungen gibt – einem Computerspiel fehlen zum Beispiel die Seitenzahlen.

Close Reading

Dennoch bedient sich Schniz in Form des Close Reading einer Interpretationsmethode aus der Literaturwissenschaft: Dabei werden einzelne sehr kurze Passagen detailliert unter die Lupe genommen. Der Kulturwissenschafter untersucht deshalb Schöpfungen des britischen Independentstudios The Chinese Room, da dessen Spiele im Schnitt mit fünf bis sechs Stunden im Vergleich zu großen Produktionen viel schneller durchzuspielen sind.

Bei der "Lektüre" eines Computerspiels wird nicht bloß das gesprochene und geschriebene Wort berücksichtigt, sondern auch alle audiovisuellen Effekte sowie die Aktionen von Spiel und Spieler. Hier ist alles Text: Dieser dekonstruktivistische Zugang verdeutlicht, dass das Fach der Gaming Studies wohl auch ein Kind des Siegeszugs des Poststrukturalismus in den Kulturwissenschaften ist.

Dabei kann man zudem sehen, wie traditionelle Auslegungsmethoden bei diesem Medium an ihre Grenzen stoßen: Im Computerspiel ist eine Sequenz nie dieselbe, da sie sich durch die ständige Interaktion immer wieder verändert: "Jedes Spielerlebnis ist ein Unikat."

Komplexes Medium

Auch die Ambivalenz von Videospielen ist eine Herausforderung: Erzählmedium, Kunstwerk, Massenprodukt – je nachdem, wie man ein Computerspiel versteht, ruft das ein anderes Fach auf den Plan. Jedoch ergibt sich daraus auch eine verengte Perspektive.

Durch die verschiedenen Anforderungen, die das Medium in seiner Komplexität an die Analyse stellt, ist laut Schniz ein interdisziplinärer Zugang notwendig: "Vernünftige Ergebnisse bekommt man nur, wenn man den eigenen wissenschaftlichen Hintergrund mit Zugängen aus anderen Disziplinen kombiniert."

Das solle sich aber nicht nur darauf beschränken, dass sich Philologen, Medienwissenschafter, Kunsthistoriker und Soziologen zusammentun, sondern es gelte auch, über den Tellerrand der Geisteswissenschaften hinauszublicken und die Techniker einzubeziehen.

Kultur und Technik

Am Wörthersee versucht man diesen Gedanken nicht nur in der Forschung, sondern nun auch in der Lehre mit Leben zu füllen: Im kommenden Wintersemester startet hier ein neuer Masterstudiengang namens Game Studies and Engineering, der Kulturwissenschaft und Informatik vereinen soll.

Schließlich werden nicht nur Spiele immer realistischer, auch die Realität wird immer spielerischer: Das moderne Leben bestimmende Technologien und Medieninhalte bedienen sich mehr und mehr spielerischer Elemente, weil es Menschen zunehmend nach Interaktivität verlangt – immersive Zugänge wie Virtual Reality werden das noch verstärken.

Deshalb seien Spiele auch so interessant, weil sie von der Welt außerhalb des Bildschirms erzählen, sagt Schniz: "Immer mehr Menschen fragen sich: Wie kann ich der Held in meiner eigenen Geschichte sein? Das Spiel ist deshalb der Modus unserer Zeit." (Johannes Lau, 31.8.2017)