Ingrid Thurners Artikel "Für Muslime gilt die Schuldvermutung" (der STANDARD, 28. 8.) trifft sicherlich einen Punkt, wenn es um den Missbrauch von muslimischem Antisemitismus durch Rechtsextreme geht. Trotzdem ist ihre historische Präsentation mangelhaft und irreführend. Sie unterschätzt das Ausmaß des Vorurteils, der Diskriminierung und der Gewalt gegen Juden durch Muslime in der Geschichte enorm.

Muslime haben den Antisemitismus, wie sie impliziert, nicht von den Europäern gelernt. Sie haben ihre eigene, lange Tradition des Judenhasses. Antijüdische Themen finden sich im Koran, auch wenn sie von muslimischen Gelehrten heruntergespielt werden. Muslimische Regierungen waren in der Vergangenheit tatsächlich oft freundlicher zu Juden als christliche Regierungen, aber nur auf einige dieser Episoden zu fokussieren ist Rosinenpickerei.

Auf der anderen Seite muss man die klassische muslimische Diskriminierung von Juden (und Christen) gewärtigen, die dazu verpflichtet waren, im Mittelalter spezielle Zeichen auf ihrer Kleidung zu tragen. Im Gegensatz zu Thurners Behauptung waren es die Europäer, die das von den Muslimen abkupferten, und nicht umgekehrt. Juden wurden als minderwertig markiert. Ihnen war es verboten, zu reiten oder Waffen zu tragen. So waren sie wehrlos gegenüber Angriffen von Judenhassern. Und von diesen gab es viele in der muslimischen Welt.

Der erste Massenmord an europäischen Juden durch Christen ereignete sich im Ersten Kreuzzug am Ende des 11. Jahrhunderts. Bereits davor wurden Juden von Muslimen in Córdoba ermordet (1011) und die jüdische Bevölkerung von Granada 1066 von Muslimen de facto ausgelöscht. Über die kommenden Jahrhunderte gab es unzählige muslimische Pogrome.

Es ist Geschichtsklitterung, wenn Thurner versucht, die Verantwortung für muslimischen Antisemitismus auf Europäer abzuschieben. So wie diese im Mittelalter antijüdische Praktiken von Muslimen übernahmen, haben Muslime dies umgekehrt getan. Juden wurden auf beiden Seiten zu Opfern. Weitverbreiteter Antisemitismus in den meisten islamischen Staaten ist kein Mythos der islamophoben Rechten. Das ist Realität. Dass Rechte sie politisch benutzen, ist kein Grund, diese Realität zu ignorieren. (Stan Nadel, 29.8.2017)