Bild nicht mehr verfügbar.

Talia Sasson: "Einige glauben, wir seien 'Verräter' und Gegner der Interessen des Staates. Ich aber sage: Das Gegenteil ist wahr."

Foto: EPA

STANDARD: Der New Israel Fund, dessen Präsidentin Sie sind, sammelt Geld, um damit Organisation wie B'tselem oder Breaking the Silence in Israel zu unterstützen. Nicht nur deswegen wird Ihrem Fonds von Kritikern vorgeworfen, antiisraelisch zu sein.

Talia Sasson: Diese Anschuldigungen sind komplett falsch. Ich liebe Israel und bin eine israelische Patriotin, habe diesem Land mehr als 25 Jahre gedient, habe israelische Premierminister von Yitzhak Rabin über Shimon Peres bis Ariel Sharon beraten. Meine Familie kam vor 100 Jahren nach Israel, hat ein Kibbuz errichtet und das Land mit aufgebaut. Uns vorzuwerfen, wir seien Verräter, ist der Versuch einer Delegitimierung aus rein politischen Motiven.

Der New Israel Fund ist eine Organisation, die vieles zum Wohl der israelischen Bevölkerung macht. Es begann mit dem Geldsammeln bei amerikanischen Juden für Projekte in Israel, das an NGOs weitergeleitet wird, um Israels Demokratie und die soziale Gerechtigkeit im Land zu stärken. Seit fast 40 Jahren unterstützen wir verschiedene Institutionen der israelischen Zivilgesellschaft, die sich für Frauenrechte, LGBT, Flüchtlinge, und Arme einsetzen. Wir kämpfen gegen jede Form von Verstößen gegen Menschenrechte in Israel und Menschenrechtsverstöße gegen Palästinenser im Westjordanland.

STANDARD: Dennoch werden Sie von Teilen der Bevölkerung Israels und vor allem der israelischen Regierung als Feind wahrgenommen.

Sasson: Die Frage ist, was die Regierung erreichen will. Es gibt zwar eine Opposition zur rechten Regierung in Israel, aber keine starke. Die Herausforderer der Regierung sind die Menschenrechtsorganisationen. Es sind diese Organisationen, die die Regierung wegen Siedlungen im Westjordanland vor die Gerichte bringen, die Demonstrationen organisieren, die für Meinungsfreiheit und das Recht auf Menschenwürde kämpfen. Der Regierung gefällt das nicht, die Regierung will keine Opposition. Deswegen greift sie jene an, die diese Organisationen finanziell unterstützen. Das ist der eigentliche Grund, warum der New Israel Fund der neue Feind wurde.

Wir wollen Israels Demokratie stärken und für die Rechte von Minderheiten kämpfen. Was soll daran falsch sein? Das steht in unserer Unabhängigkeitserklärung. Ich glaube an diese Erklärung, das ist meine Bibel. Bin ich deswegen eine Verräterin oder nicht doch eine israelische Patriotin? Wer gab den Rechten in Israel das Recht, jemanden als Feind Israels zu deklarieren? Ich glaube, die Rechte agiert gegen die Interessen des israelischen Staates, aber ich delegitimiere sie nicht. Sie aber versuchen, die Linke und die Menschenrechtsorganisationen zu delegitimieren. Einige glauben, wir seien "Verräter" und Gegner der Interessen des Staates. Ich aber sage: Das Gegenteil ist wahr. Wir sind für eine Zweistaatenlösung, für Frieden zwischen Israelis und Palästinensern, wir glauben, dass die Siedlung nicht gut, sondern schlecht für die Interessen des Staates Israel sind.

STANDARD: Sie glauben also noch an eine Zweistaatenlösung? Viele haben die Hoffnung darauf doch schon längst aufgegeben.

Sasson: Die israelische Rechte will den Menschen glauben machen, dass die Zweistaatenlösung tot ist. Für sie wäre das ein Sieg. Wenn man eine Zweistaatenlösung für tot hält, akzeptiert man den Status quo. Das kann ich nicht akzeptieren: eine Situation, in der zwei Völker in ein und demselben Gebiet ohne Grenze zwischen ihnen leben, aber zwei unterschiedliche Rechtssysteme haben. Die einen haben alle Rechte eines demokratischen Staates, die andere Seite hat keine politischen Rechte, keinen Staat und keine echte Gerichtsbarkeit.

Versetzen Sie sich in die Perspektive eines Zwanzigjährigen: In der Schule wird ihm beigebracht, dass Demokratie gleiche Rechte bedeutet. Wenn er sich dann die Realität ansieht, muss er zwangsläufig zum Schluss kommen: In der Schule lehren sie mir das eine über Demokratie, in der Realität passiert aber was ganz anderes. Das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, dass die jetzige Situation die israelische Demokratie schädigt. Deswegen gibt es keine andere Möglichkeit als eine Zweistaatenlösung. Der Preis dafür wird aber immer höher.

STANDARD: Welche Logik soll hinter der Idee stecken, keine Zweistaatenlösung anzustreben? Ein Staat mit zwei Rechtssystemen und dem gleichzeitig stattfindenden starken palästinensischen Bevölkerungswachstum könnte langfristig doch das Wesen Israels als jüdischen Staat gefährden?

Sasson: Ich glaube, die Rechte denkt sich: Die Situation der Palästinenser unter israelischer Kontrolle ist viel besser als jene ihrer arabischen Brüder anderswo im Nahen Osten – das muss reichen. Diese Logik kann ich nicht akzeptieren. Die Rechten glauben, das Land wurde ihnen von Gott geschenkt. Sobald man Gott zu einer Diskussion mitbringt, wird es schwierig mit Argumenten.

STANDARD: Sie sprechen viel über die Rechte in Israels Politik. Fakt ist: Sowohl Politik als auch Gesellschaft sind in Israel in den vergangenen Jahren deutlich nach rechts gerückt. Wieso?

Sasson: Die fortgesetzten terroristischen Aktivitäten, Kriege, Gewalt und ständig angegriffen zu werden – so etwas trägt schlechte Früchte. Für jede Demokratie, auch in Europa – seien Sie gewarnt! Diese Situation des ständigen Konflikts zwischen Arabern und Israelis seit der Gründung des Staates gab vielen Israelis das Gefühl, dass sich die arabischstämmigen Israelis mit ihren arabischen Brüdern identifizieren. Dadurch entstand das Gefühl, dass die Bedrohung auch aus dem Inneren kommt – 20 Prozent der Bevölkerung sind arabischer Herkunft. Es gibt also Spannungen innerhalb der israelischen Bevölkerung, und dieses Spannungen nutzt die Rechte aus. Die Rechte hat verstanden, das Sicherheitsthema politisch zu besetzen, und das ist in Israel das wichtigste Thema. Die Frustration über das Scheitern der Friedensbemühung hat das Übrige dazu beigetragen. Beschuldigt wird immer die andere Seite. Das ist aber keine Lösung. (Stefan Binder, 31.8.2017)