"An dieser Stelle war in den Jahren 1801 bis 1908 ein jüdischer Friedhof", steht auf dem Gedenkstein im Park. Tatsächlich verschwand der Friedhof erst 1943.

Foto: Gerald Schubert

Etwa 800 Kinder und Jugendliche besuchen die Schule vor dem Gelände des ehemaligen Friedhofs in Prostějov.

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Eine Plastiktafel zum Gedenken an den ehemaligen Oberrabbiner der Stadt wurde im Mai beschädigt.

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"Antisemitismus? Hier gibt es keinen Antisemitismus!" Alena Raškovás Stimme wird eine winzige Spur lauter, wenn sie das sagt. Die Bürgermeisterin der mährischen Stadt Prostějov blickt an die Decke ihres Rathausbüros, ganz so, als würde sie dort nach Resten der "absoluten Ruhe" suchen, die hier noch vor kurzem geherrscht habe.

Wahrscheinlich hätte sie sich einen anderen Grund für das plötzliche Medieninteresse aus Wien gewünscht. Doch seit die Sache mit dem jüdischen Friedhof ins Rollen gekommen ist, gibt es auch für die meisten tschechischen Journalisten kaum ein anderes Thema, wenn es um Raškovás 40.000-Seelen-Gemeinde geht.

Das Grundstück des Anstoßes liegt etwa einen halben Kilometer vom Rathaus entfernt, am Rande des Stadtzentrums. Unmittelbar vor einem Schulgebäude, das eine Volksschule und ein Realgymnasium beherbergt, erstreckt sich hier ein länglicher Park. Ein Gedenkstein in der Mitte erinnert an die Geschichte des Ortes: "Hier befand sich von 1801 bis 1908 ein jüdischer Friedhof."

Dass die Inschrift nicht den Tatsachen entspricht, das hat sie mit vielen Argumenten gemein, die im aktuellen Streit um die Zukunft des Areals ins Treffen geführt werden: 1908 war das Jahr, an dem hier das letzte Begräbnis stattfand. Verschwunden ist der Friedhof erst 1943, nachdem die Gemeinde, vertreten durch einen deutschen Bürgermeister, das von den Nazi-Besatzern "arisierte" Gelände gekauft hatte.

"Vermutlich haben die Verantwortlichen die Archive nicht ordentlich studiert", ärgert sich Tomáš Jelínek, der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Prag.

Zurück an den ursprünglichen Platz

Heute vertritt Jelínek in Tschechien die US-amerikanische Kolel-Damesek-Eliezer-Stiftung, die auch in anderen Ländern die Neugestaltung ehemaliger jüdischer Friedhöfe unterstützt und finanziert. In den vergangenen Jahren hat er in Prostějov und Umgebung mehrere Grabsteine ausfindig gemacht, die nach Auflösung des Friedhofs zur Zeit des "Protektorats Böhmen und Mähren" verscherbelt wurden und als Pflastersteine oder Baumaterial endeten.

Manche – längst nicht alle – Erben waren bereit, sich von den Fundstücken zu trennen. Und so wuchs mit der Zeit nicht nur Jelíneks Sammlung von Grabsteinen, sondern auch der Wunsch, diesen ihre ursprüngliche Bedeutung zurückzugeben, und zwar an ihrem ursprünglichen Platz.

Prostějov liegt etwa 40 Kilometer nordöstlich von Brünn, im Kreis Olmütz. Für mehrere Jahrhunderte war die Stadt Heimat der zweitgrößten jüdischen Gemeinde in Mähren. Der Philosoph Edmund Husserl wurde hier geboren, ebenso der Vater des Schriftstellers Stefan Zweig. Ihre Vorfahren gehören zu den etwa 2000 Menschen, die auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof der Stadt begraben wurden. Hier, wo ein eigentlich interessantes kommunalpolitisches Thema – die Neugestaltung eines Parks unter Berücksichtigung des historischen und geistigen Erbes – unterzugehen droht im Getöse einer von Fake-News und Hass geprägten Antisemitismusdebatte.

Funktion im öffentlichen Raum

Die Pläne, auf dem Areal vor der Schule eine neue Gedenkstätte zu errichten, reichen zurück bis ins Jahr 2013. Richtig in Fahrt kam die Debatte dann 2016. Es war das Jahr, in dem der 200. Todestag des ehemaligen Oberrabbiners Horowitz begangen wurde und Prostějov erneut in den Fokus der Kolel-Damesek-Eliezer-Stiftung rückte.

Diese präsentierte der Stadtverwaltung den Vorschlag, dem gesamten Grundstück ein neues Antlitz zu geben: "Es soll ein Ort sein, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist", erklärte Jelínek dem STANDARD. "Aber eben auch ein Ort, der ein Bewusstsein dafür schafft, dass es sich um einen jüdischen Friedhof handelt – und nicht einer, wo die Leute ihre Hunde Gassi führen."

Gerade was die Rolle betrifft, die das Grundstück künftig im öffentlichen Raum spielen soll, scheiden sich aber die Geister. Zunächst, so Bürgermeisterin Rašková, habe man ihr einen Plan unterbreitet, der die Umzäunung des Areals mit einer Hecke vorsah, wobei zwei kreuzförmig angelegte Wege die Ein-und Ausgänge auf jeder Seite miteinander verbinden sollten.

Rašková sagt, sie hätte mit dieser Variante leben können. "Wir haben mit einem Architekten sogar vereinbart, die Gehwege 20 Zentimeter über der Erde laufen zu lassen", beteuert sie. Niemand, so Rašková, sollte auf die Gräber treten, die sich nach jüdischem Glauben immer noch dort befänden – "obwohl unter der Erde eigentlich längst die Leitungsnetze der Stadt verlaufen".

Offen nach allen vier Seiten

Ein Problem hatte Rašková allerdings mit dem neuerlichen Aufstellen von Grabsteinen. "Angesichts dessen, dass dort Kinder zur Schule gehen, erschien mir das unangebracht." Einen abgeänderten Entwurf, der dann nur noch einen einzigen Eingang in das Areal vorsah, lehnte Rašková erst recht ab: Der Park solle weiterhin nach allen vier Seiten hin offen bleiben.

Zudem, so die Bürgermeisterin, wäre die Begrenzung des Zugangs zur Schule auf einen Korridor hinter der Hecke auch sicherheitstechnisch ein Risiko für die 800 Kinder und Jugendlichen: "Vielleicht klingt es grausam", sagt die Sozialdemokratin, "aber ich weiß nicht, wer mehr Rechte hat: Jemand, der im 19. Jahrhundert gestorben ist, oder ein Kind, das im 21. Jahrhundert lebt."

Tomáš Jelínek, der Vertreter der Kolel-Damesek-Eliezer-Stiftung, winkt ab. Es gäbe längst positive Gutachten von Feuerwehr und Rettungsdiensten. Obendrein sieht er sich vom christdemokratisch geführten Kulturministerium in Prag bestärkt, welches das Grundstück – gegen den Widerstand Raškovás, wie beide betonen – 2016 zum Kulturdenkmal erklärt hat.

"Volkes Stimme – Gottes Stimme"

Als besonders bedrohlich empfindet Jelínek aber die 3000 Unterschriften unter eine Petition gegen das Projekt. Die Initiatoren und einige Vertreter der Lokalpresse würden klar antisemitische Ressentiments schüren. Belege dafür sammelt Jelínek in einer Mappe, die immer dicker wird. So schreibt etwa die Wochenzeitung "Prostějovský večerník" vom "berechnenden Charakter" der jüdischen Gemeinde. Dazu kommen anonyme Flugblätter und antisemitische Äußerungen im Internet.

In der Leserbriefecke eines Lokalblattes, die sinnigerweise "Volkes Stimme – Gottes Stimme" heißt, verspricht ein Mann gar, zur Tat zu schreiten, wenn es denn nötig sei: Im September werde er seine Enkelin an ihrem ersten Schultag begleiten. Das Mädchen werde einen Blumenstrauß für die Lehrerin in der Hand tragen – "und ich eine Spitzhacke, falls der Eingang zugemauert ist".

Mauer? Spitzhacke? War in den Plänen nicht von einer Hecke die Rede? Schon, aber Fakten sind in der aufgeheizten Atmosphäre wohl zweitrangig. "Da herrscht eine Stimmung, die an die schlimmsten Traditionen Prostějovs anknüpft", klagt Jelínek.

Aber auch die Bürgermeisterin distanziert sich von der Petition und von Falschmeldungen über die Absichten der jüdischen Gemeinde: "Die Petition war kontraproduktiv, weil sie unsere Beziehungen verschlechtert hat", so Rašková. Entgegengenommen hat sie sie trotzdem: "Wir müssen ja wahrnehmen, was sich die Bürger wünschen. 3000 Leute haben unterschrieben. Bei 40.000 Einwohnern sind das sehr viele."

Laute Antisemiten

Für Rašková sind das keine Antisemiten, sondern einfach Leute, die den Park belassen wollen, wie er ist. Auch Zbyněk Tarant, Anthropologe am Institut für Nahoststudien an der Westböhmischen Universität in Pilsen, spricht nicht von einem direkten Antisemitismusproblem in Tschechien. Antisemiten befänden sich am Rand der Gesellschaft.

Allerdings gelänge es ihnen immer wieder, lauter aufzutreten, als es ihrer tatsächlichen Bedeutung entspricht. "Die Gegenreaktionen sind dann in der Regel zwar sehr stark", sagt Tarant dem STANDARD. "Es besteht jedoch die Gefahr, dass dieser Diskurs irgendwann abstumpft."

Zum jüngsten Symbol für die gereizte Stimmung in Prostějov wurde eine dünne Plastiktafel, die in einer entlegenen Ecke des Parks auf Hebräisch an Rabbi Horowitz erinnert. Heuer im Mai wurde sie zerbrochen – laut Polizei von Kindern. Was für die einen ein dummer, aber harmloser Streich ist, ist für die anderen Beleg für eine Welle des Antisemitismus, die über Prostějov hereinbricht. Zwischentöne, die es etwa ermöglichen würden, gemeinsam über die Gründe für kindliche Abwehrhaltungen gegen "Fremdes" nachzudenken, haben da keinen Platz.

Stattdessen erklärt die Bürgermeisterin einfach, dass es in ihrer Stadt keinen Antisemitismus gäbe. Und eine israelische Website, die antisemitische Vorfälle auf der ganzen Welt dokumentiert, berichtet, in Prostějov sei der Grabstein eines Rabbis zerstört worden – auf einem Friedhof, auf dem es gar keine Grabsteine gibt.

Entwirren soll das Kommunikationsdesaster nun Tschechiens ehemaliger Premierminister Vladimír Špidla. Als Mediator hat er bereits mehrere Treffen absolviert, ein gemeinsames mit allen Beteiligten steht noch aus. Der bedächtige Historiker – ein Sozialdemokrat, der fünf Jahre lang EU-Kommissar für Soziales und Chancengleichheit war – genießt tatsächlich das Vertrauen beider Seiten.

Dennoch: Die "absolute Ruhe", die sich Bürgermeisterin Rašková wieder herbeisehnt, die dürfte noch eine Zeitlang auf sich warten lassen. (Gerald Schubert aus Prostějov, 3.9.2017)