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Das Mosaik, das Robert Menasse in "Die Hauptstadt" vor Augen führt, bietet eine lustvolle, zugleich nachdenklich animierende Lektüre.

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Mit einem Schwein fängt es an. Ein rosa Hausschwein läuft auf dem Platz des alten Getreidemarktes mitten in Brüssel frei herum. Das unerhörte Ereignis ist die Wildbahn im Urbanen, der Einbruch einer als Nutztier eingesperrten Kreatur ins naturfern Geregelte. Und "unerhört" erscheint es, zu welcher Bedeutung der Schweinsgalopp medial getrieben wird, während Weltprobleme anstehen.

Das Unkontrollierte im Kontrollierten bildet ein auf mehreren Ebenen wirkendes Leitmotiv in Robert Menasses Roman Die Hauptstadt. Im Essayband Der Europäische Landbote hat der profunde EU-Kenner schon 2012 bilanziert: "Entweder geht das Europa der Nationalstaaten unter, oder es geht das Projekt der Überwindung der Nationalstaaten unter"; so oder so erlebe man eine Umbruchszeit. Er beabsichtige einen Roman zu verfassen, der das Panorama der Epoche entfalte, denn wir "befinden uns heute sozusagen in der Situation der Figuren der großen Vorabend-Romane".

Auf einen ihrer Meister hat er gelegentlich verwiesen: Balzac strebte eine Erzählung an, in der die Zeitgenossen sich wiedererkennen und spätere Generationen sie verstehen. Nun ist Menasse nicht weniger gelungen, als das Europa der EU ebenso vielschichtig wie genüsslich, sprachkunstvoll wie packend darzustellen.

Ausbund der Komplexität

Hervorragende Gesellschaftsromane vermögen ein Zeitbild zu vermitteln, wie es in anderen Darstellungen eindringlicher, anschaulicher und erkenntnisreicher kaum erstehen könnte. Die gestalterischen Schwierigkeiten sind allerdings buchstäblich von epischem Ausmaß. Es gilt sowohl mit Weitblick als auch Tiefenschärfe ein Panorama zu schaffen, das Allgemeines im Besonderen und Besonderes im Allgemeinen nahebringt, an der Oberfläche sozialer Zusammenhänge kratzt und ins Innere einer Vielzahl von Charakteren dringt.

Noch größer wirkt die Herausforderung, wenn eine Institution kontinentalen Umfangs wie die Europäische Union, die man landläufig als Ausbund der Komplexität und Unübersichtlichkeit kritisiert, zur Erzählung ansteht.

Im Lichte des "Unbegreiflichen" auf dem Platz Vieux Marché aux Grains in Brüssels Viertel Sainte-Catherine treten Robert Menasses Hauptfiguren auf. Das Schwein kommt allen in die Quere.

Im selben engen Kreis sind sie aus je anderen Gründen in je verschiedenen Bewegungen begriffen: Der alte David de Vriend zieht nach sechzig Jahren aus seiner Wohnung ins Seniorenheim; Fenia Xenopoulou ist mit ihrer "Affäre" Kai-Uwe Frigge im Restaurant verabredet, er bei der EU Kabinettschef in der Generaldirektion für Handel, sie die karrierebewusste Abteilungsleiterin in der Kultur; ihr Untergebener Martin Susman denkt in seinem Apartment über die Erfindung des Senfs und über Romananfänge nach; im Hotel Atlas ist der emeritierte Professor Alois Erhart abgestiegen; Matek Oswiecki verlässt es eilig, er hat soeben einen Mann erschossen. Den Mordfall untersucht Émile Brunfaut, aber die Obrigkeit lässt bald alle Spuren tilgen und die Ermittlungen einstellen – nur: Der Kommissar ist hartnäckig widerständig.

Beredte Topografie

Robert Menasse beherrscht die Kunst, seine Protagonisten nebeneinander, miteinander in einem klugen Arrangement zu entwickeln. In einer beredten Topografie aussagekräftiger Orte erstehen knappe Charakter- und Karrierestudien von Personen inmitten einer Reihe eindrucksvoller Nebenfiguren. Sie begegnen einander, manchmal ohne dass sie es bemerken und der Erzähler es ausdrücklich vermerkt. Das verstärkt den Eindruck umfassender Bewegung, spielt laufend auf hintergründige Zusammenhänge an.

Der alte de Vriend begibt sich unweit des Seniorenheims im Friedhof auf Erinnerungsspuren. Dort sucht Professor Erhart das Mausoleum der bedingungslosen Liebe, das ihn in seine Vergangenheit versetzt; dort verpasst der Kommissar einen geheimnisvollen Informanten. An der Stelle nimmt Brunfaut das zweite Leitmotiv – die Zeit – auf und sieht das "endlose Feld der letzten Ruhe": "Wechselnde Fluchtlinien, die aber perspektivisch immer in dieselbe Richtung zeigten, in die Ewigkeit."

Die Linien des Romans führen in viele Etagen der EU-Institutionen. Sie bündeln sich auch in Griechenland, Wien und Polen und dort im katholischen Geheimdienst, vor allem in Auschwitz, wo sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umreißen.

De Vriend war 1943 aus dem Deportationszug gesprungen, hatte sich der einzigen Widerstandsgruppe für eine Europäische Republik angeschlossen, die der Großvater von Kommissar Brunfaut geleitet hatte, war verraten worden, hatte Auschwitz überlebt. Auf das Vernichtungslager kommt Martin Susman, als er ein Jubiläumsprojekt konzipieren soll, um das Image der EU-Kommission aufzubessern.

Da er "Auschwitz als Geburtsort der Europäischen Union" beschreibt, halten ihn Fenia und Kai-Uwe zunächst für verrückt. Auf anderer Ebene, im Thinktank, ruft Professor Erhart in seinem verblüffenden letzten Vortrag zur "nachnationalen Demokratie" auf und sieht Auschwitz in einer künftigen Funktion, die dem Romantitel eine weitere Dimension verleiht. Die Hauptstadt ist symbolisches Zentrum, in dem die Fäden zusammenlaufen (man sehe sich das Buchcover genau an!). Und die Überschrift des ersten Kapitels erklärt: "Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen."

Männer ohne Eigenschaften

Das "Big Jubilee Project" erinnert an Musil, auf den Menasse ein paarmal anspielt. Von großer, satirischer Verve ist die Szene, in der der österreichische Außenminister für den Fragebogen einer Frauenzeitschrift sein Lieblingsbuch nennen soll. Der Pressesprecher weiß, dass sich die heimischen Politiker traditionell zum Mann ohne Eigenschaften bekennen. "Darunter geht es eigentlich nicht", betont er. "Tabu ist auf jeden Fall ein lebender Autor. Die Leut wollen keinen Lebenden."

Und welches seine literarische Lieblingsfigur sei? "Wie heißt denn der aus dem 'Mann ohne Eigenschaften'?" Ulrich würde der Pressesprecher allerdings nicht empfehlen: "Wie gesagt: ohne Eigenschaften. Habe außerdem gegoogelt. Er hat ein Problem mit Inzest. Schlage vor: Arnheim." Wer denn das sei? Der passe für ihn, großer Mann, Politiker und Intellektueller, und der habe "eine innige platonische Liebesbeziehung". "Geil", sagt der Minister und tritt mit diesem bezeichnenden Wort ab. Am nächsten Tag schickt er dem Präsidenten des Europäischen Rats eine Note über das Jubiläumsprojekt, "die unmissverständlich klarmachte, dass Österreich dafür und dagegen sei".

Welch nationalistische Reaktionen die aktuelle Parallelaktion hervorruft und wie es ihr in der Institution ergeht, ist ein Lehrstück von politischer Bürokratie und Sprachvernebelung. Was im Hintergrund wirkt – das gilt für fast alle Stränge des Romans -, bleibt bei Menasse eben nicht im Dunkeln, sondern wird als strategischer Schweinsgalopp oder als schleichende Intrige ans Licht gebracht. Am Exempel sind die Wertigkeiten in der EU ersichtlich. "Bildung und Kultur", genannt "Die Arche", gilt als Alibiressort; "nicht einmal Augenauswischerei, weil es kein Auge gab, das hinschaute".

Charakterbild eines heutigen "Vorabends"

Kapitel für Kapitel nimmt ein Charakterbild der EU und eines heutigen "Vorabends" Gestalt an. Man erkennt, wie der große Apparat, wie Karriere funktioniert. Die Schlagwörter sind Mobilität, Visibilität, Budget. Die allermeisten Beamten sind "Orthodoxe oder Fanatiker", in den Thinktanks sitzen die "Nichts-als-Eitlen", die "Nichts-als-Idealisten" und die Lobbyisten. Überall wirken Interessen, ob für Mitgliedsstaaten oder für die "European Pig Producers". Viele ziehen an vielen Fäden, selten in dieselbe Richtung, sodass etwa nur bilaterale Abkommen für den Schweineohrenhandel mit China geschlossen werden.

Dieser ökonomische Aspekt ist von Romanbeginn an ein Teil der Motivfolge, bis zu einer Zeitungsserie "Das Schwein als universelle Metapher". Derartig Groteskes, wie bei Susmans KZ-Besuch das Schild "No smoking in Auschwitz", verleiht neben den präzisen Darstellungen von Vorgängen, Ambiente, Gefühlen dem Ganzen die Breite eines vielfältigen Panoramas. Wesentlich trägt dazu eine Breite der Tonlagen bei – von Phrasenzitaten bis zu aphoristischen Sprachjuwelen -, insbesondere eine meist feine, mitunter aufschreckend deutliche Ironie, die auch im Poetologischen Auswirkungen zeitigt. Als die Kulturbeamtin Fenia einzig aus Karrieregründen das Lieblingsbuch des Kommissionspräsidenten liest, kommt sie zum Schluss: "Romane sind verrückt." Später, an anderer Stelle, erklärt einer der wenigen Erzählerkommentare: "Der Algorithmus, der alles Mögliche filtert und auch das bisher Erzählte geordnet hat, ist natürlich verrückt – vor allem aber ist er beruhigend: Die Welt ist Konfetti, aber durch ihn erleben wir sie als Mosaik."

Dieses Mosaik, das Robert Menasse in Die Hauptstadt vor Augen führt, bietet eine lustvolle, zugleich nachdenklich animierende Lektüre. Eine Zeitdiagnose im Gesellschaftsroman, den Balzac heute wohl zu genießen und schätzen wüsste. (Klaus Zeyringer, 3.9.2017)