Erich Hofbauer hat eine Aufgabe: Er kümmert sich um seine Stieftochter Paulina. Die 29-Jährige ist Autistin, immer wieder wird sie von schweren Anfällen übermannt.

Foto: Christopher Mavric

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Günther Brandstetter, Marietta Mühlfellner (Hg.), "hochbetagt. 15 Porträts", € 29,90 / 240 Seiten. Anton- Pustet-Verlag, 2017

Das Buch ist ab 4. September 2017 im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich.

Foto: Robert Fleischanderl / Verlag Anton Pustet

Der Tod war Erich Hofbauers große Chance. Anfang der 1960er-Jahre war das, und es handelte sich nicht um einen Faust'schen Pakt, den der junge Architekt damals mit dem Teufel schloss, sondern um einen Auftrag von historischer Bedeutung: die Erweiterung der Kapuzinergruft im Herzen von Wien. Dort unten, wo die Habsburger zur letzten Ruhe gebettet sind und nur noch bleiche Gebeine das Ende einer längst vermoderten Welt bezeugen.

Jahr für Jahr steigen Zehntausende Touristen in die Katakomben hinab, um die prächtigen, mit Ornamenten verzierten Särge und Sarkophage zu bestaunen. Dem feudalen Totenkult der Habsburger hat der Eisenbahnerbub Hofbauer einen neuen, schlichten Grabraum errichtet: mit gefalteter, rauer Betondecke, unverputzten Wänden, falbem Marmor, wuchtigen, wie von Riesenhämmern behauenen Eisentüren.

Gerade fährt der Wiener mit seinem energisch ausgestreckten Zeigefinger über ein Bild der Deckenkonstruktion. Dutzende Fotos von der "Neuen Gruft" hat der 85-Jährige vor sich auf dem Esstisch ausgebreitet und verdeutlicht Detaillösungen, Gefüge, Materialien. Immer wieder macht er kleine Skizzen, um etwas zu erklären, auch dann, wenn es nicht um Gebäude, sondern um sein Leben geht. Gleitet der Bleistift über das Papier, fühlt sich der Mann mit den jugendlichen, großen blauen Augen sichtlich wohl. Als könnte er mit Grundrissen, Linien, Plänen seinem Innersten, seinen Erzählungen immer wieder Struktur geben. "Disziplin war immer wichtig für mich", sagt er mit leicht brüchiger Stimme. Und wie er so kerzengerade dasitzt, das lichte, silberne Haar sauber nach hinten gekämmt, mit hellwachem Geist, der auf Zuruf die Erinnerungen aus den Schubladen holt, dann mag man ihm das auch glauben.

Foto: Christopher Mavric

Stur, aber nicht starrsinnig

Ordentlich ist dieser Mann, aber nicht pedantisch. Stur, aber nicht altersstarrsinnig. Selbst die dickste Mauer, das weiß Hofbauer, muss flexibel sein, damit sie unter Belastung nicht bricht. Und flexibel, gewandt ist dieser Wiener, der sich auf der Meidlinger Hauptstraße, schick mit weißem Hemd, Strohhut, Sonnenbrille und Loafers angetan, aufs Geratewohl ansprechen lässt und sagt: "Über mich soll ich erzählen? Das ist aber viel!" Und dann, in ein Lächeln verpackt: "Wir können schon reden, aber eins muss klar sein: Viel Zeit hab ich nicht." Was wie der oft gehörte Pensionistenstehsatz klingt, ist für diesen Herrn eine Lebensaufgabe: die Betreuung seiner Stieftochter Paulina. Die 29-Jährige ist Autistin, immer wieder wird sie von schweren Anfällen übermannt.

Momentan hat Hofbauer besonders viel zu tun, ist er doch bei ihrer Pflege auf sich allein gestellt. Seine Frau, eine gebürtige Russin, mit der er sich gewöhnlich die Betreuung teilt, musste für eine Woche in ihre Heimat reisen. Paulina das Frühstück zubereiten, ihr die Kleider herauslegen, sie in die Lebenshilfe bringen und wieder abholen, mit ihr auf einen Kaffee gehen, gemeinsam den Abend verbringen, dazu die täglichen Besorgungen – all das hält den Daheimgebliebenen auf Trab. "Sie ist meine Prinzessin. Allein wenn ich ihr in der Früh den Lippenstift auftrage: Da hat sie einfach eine Freude. Nur das Zöpfeflechten" – Hofbauer fingert umständlich in der Luft herum – "das klappt eher na ja."

Vor acht Jahren holte der Pensionist seine Stieftochter von Moskau nach Wien, in eine Meidlinger Dreizimmerwohnung; seine Frau Elena, die er im Jahr 2000 geheiratet hatte, nahm er gleich mit. Die ist immerhin 30 Jahre jünger als er – das Klischee vom ergrauten Österreicher, der sich seinen Lebensabend mit einer jungen Russin versüßt, will dennoch nicht so recht passen: Die Moskowiterin ist ehemalige Leistungssportlerin, hat politische Ökonomie studiert und arbeitete lange Jahre im russischen Parlament. So eine ist nicht auf einen alten Sack aus dem Westen angewiesen. Russin ist sie dennoch: quirlig, klug, fordernd, eine, die sich durchzusetzen weiß.

Glücklich altern? Für eine solche Frage bleibt keine Zeit

Eine deutlich jüngere Frau, eine pflegebedürftige Stieftochter – einen wie Erich Hofbauer zu fragen, ob er am Alter, an Einsamkeit, Krankheiten, an sich selbst leiden würde, kann nur irregehen. Der 85-Jährige ist die wandelnde Antithese zur einschlägigen Ratgeberliteratur. Glücklich altern? Richtig älter werden? Gesundheit im Alter? Der Mann hat für solche Fragen einfach keine Zeit – und er stellt sie sich auch nicht. "Ich hab diese Leute nie verstanden, die sich in ihre Gedanken hineinverbohrt haben und damit gar nicht mehr aufhören können. Das bringt nix."

Aber was ist mit Gleichaltrigen, die man trifft, Freunden, Bekannten, die einem über kurz oder lang über ihre Krankheiten, Sorgen berichten? Hofbauer sitzt ein wenig versonnen in seinem Wohnzimmer, sein Blick streift den Nippes aus Russland, der sich auf den Regalen stapelt, die Bilder von Paulina an der Wand. "Ganz ehrlich, da bin ich ein wenig eremitisch. Ich hab einfach niemanden, der mir solche Räuberg'schichterln erzählt. Und wenn, dann hör ich einfach nicht hin."

Foto: Christopher Mavrič

Das klingt ein wenig nach Realitätsverweigerung, Verdrängung. Vielleicht aber hat dieser Mann, der 1932 in Enzersdorf bei Staatz, in einen kleinen Flecken irgendwo im niederösterreichischen Weinviertel, hineingeboren wird, während seines langen Lebens einfach schon zu viel gesehen. Viel Schönes zwar. Aber auch viel Leid, den Tod. Da will man nicht mehr alles an sich heranlassen. Zu oft hat dieser Mann Abschied nehmen müssen.

Ein Machertyp, sehr gut gekleidet

Erich Hofbauer ist einer, der seine Gefühle sehr gut eingefriedet hat. Er, der sich im Mai 1945, als 13-Jähriger, nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands und einer mehrwöchigen Flucht, in einem Dorf auf Schienen fand. Dutzende Wagons mit Flüchtlingen standen da in Linz auf einem Abstellgleis. Drei ganze Jahre lebte Erich in dieser armseligen Wagenburg, ging dort in einem eigenen Wagon zur Schule. Erst dann konnte sein Vater, der in der Zwischenzeit bei den Bundesbahnen untergekommen war, die Familie mit nach Wien nehmen. In jene Stadt, in der der Weinviertler Bub zu einem erfolgreichen Architekten aufsteigen und auf seinem Berufsweg bis in die Beletage der besseren Wiener Gesellschaft vordringen sollte.

Nach dem Studium an der Akademie der bildenden Künste am Schillerplatz heuert der Jungarchitekt 1953 im Büro eines der Großen dieses Landes an: Karl Schwanzer. Unter seiner Ägide plant Hofbauer den Ausbau der Kapuzinergruft. Fotos aus jenen Tagen zeigen einen sehr selbstbewussten, sehr gut gekleideten jungen Mann mit energischem Blick. Ein Machertyp. 1964 eröffnet er sein eigenes Büro und steuert auf die Heydays seiner Karriere zu, arbeitet für einen großen Entwickler von Gewerbeimmobilien.

1975 schließlich sein Meisterstück: das Donauzentrum an der Wagramer Straße, Österreichs erstes modernes Einkaufszentrum. 20.000 Quadratmeter Verkaufsfläche, verpackt in einen braunen Flachbau, über dem ein Hochhaus aufragt. Anfang der 1980er-Jahre plant er einen der großen Wiener Gemeindebauten, den Hermine-Fiala-Hof an der Laxenburger Straße.

Stolz und stiller Hader

Gebäude, Räume, Flächen, Beton – das war die Welt des Erich Hofbauer, und sie brachte ihm nicht nur Freunde und Wohlstand: Er ließ es richtig krachen. Schnelle Autos, edle Armbanduhren, teure Reisen, maßgeschneiderte Anzüge. Noch heute hat er in seinem Schrank einige exaltierte Kreationen hängen: breit gestreifte, schwarz-weiße Sakkos, Mäntel aus edlen Stoffen, Anzüge in schwülstigen Farben, viel Versace. Der Besitzer steht ein wenig ratlos davor, befingert ein paar Ärmel. Bedeuten Ihnen die Sachen etwas? Hofbauer zieht die Mundwinkel nach unten, zuckt mit den Schultern: "Eigentlich gar nix. Fetzn halt."

Foto: Christopher Mavrič

Es ist eine seltsame Mischung aus Stolz und stillem Hader, mit der dieser Mann auf seine Karriere zurückblickt. Ein Grund mag wohl ein Wesenszug sein, der heute als antiquiert, gestrig gilt: Anstand. Penibel weist er etwa, wenn er einige seiner Bauten Revue passieren lässt, darauf hin, dass nicht er allein, sondern mitunter auch andere Kollegen mitgearbeitet haben. Doch Anstand und berufliche Bescheidenheit sind schlechte Ratgeber im Weltdorf Wien, diesem Tummelplatz der Blender und "Adabeis". Ohne sie wäre er wahrscheinlich in der Oberliga der Szene gelandet, bei Hollein, Peichl, Achleitner. Gut möglich aber auch, dass seine Architektur bloß zu funktional, zu wenig öffentlichkeitswirksam war.

Gewiss ist nur eines: Etwas fehlt, damit Erich Hofbauer vollends zufrieden, mit sich im Reinen, Bilanz ziehen kann. Etwas, das er jeden Tag sieht, wenn er in der Früh aus dem Schlafzimmer kommt, wenn er sich mit Paulina zum Weggehen fertigmacht, wenn er ins Wohnzimmer stapft. Es ist ein Foto, an dem er jeden Tag oft, sehr oft vorübergeht und dennoch nicht vorbeikommt: Isabella, seine erste Frau, ist darauf zu sehen. Sie lächelt, eine Locke fällt ihr in die Stirn, ein Schnappschuss aus dem Wanderurlaub im Salzkammergut, späte 1970er-Jahre. Etwas gebeugt, angespannt, steht Erich Hofbauer vor dem Foto, erzählt detailreich, wie das Bild damals entstand. Er hört gar nicht mehr auf zu reden. Doch mit einem Mal hält er inne, fixiert stumm, sekundenlang das Gesicht. Dann dreht er sich weg, trottet zurück ins Wohnzimmer und beginnt zu erzählen: von 1963, als er Isabella kennenlernt. (Stefan Schlögl, gekürzter Vorabdruck aus dem Buch "hochbetagt", 2.9.2017)