Regisseurin Anna Badora und Dramaturgin Anita Augustin koppeln Soeren Voimas Stück "Iphigenie in Aulis" mit Stefano Massinis "Occident Express" und analysieren Kriegsbereitschaft und ihre Folgen.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Die von Ihnen zusammengeführten beiden Stücke erzählen Unterschiedliches. Die einen (in "Iphigenie in Aulis" von Soeren Voima) ersehnen den Krieg, die anderen (in "Occident Express" von Stefano Massini) fliehen vor ihm. Was ist das Verbindungsglied?

Badora: Sie haben es schon gesagt: der Krieg. Es scheint wieder normal zu sein, dass bei vielen Konflikten "alle Optionen auf dem Tisch liegen". Sprich, Krieg ist als letztes Mittel bis hin zum möglichen Einsatz von Atomwaffen wie in Nordkorea wieder mehrheitsfähig geworden. Menschen wollen ihre Heimat "verteidigen". In einer saturierten Gesellschaft wie der unseren ziehen junge Menschen zu Tausenden aus ihren langweiligen Kinderzimmern begeistert in Kriegsgebiete, um dort zu kämpfen. Grund egal.

STANDARD: Weil diese Generation gar keine Kriegserfahrung hat und es auch keine Bedrohung gibt?

Badora: Ja. Wir fragen uns, wie ist es möglich, dass in einer friedlichen Gesellschaft so eine Stimmung aufkommt, in der Krieg als Möglichkeit oder gar Notwendigkeit betrachtet wird.

Augustin: Aber auch in weniger friedlichen Ländern nimmt die Kriegsbegeisterung derzeit befremdliche Formen an. Auf Facebook posten junge Israelinnen semipornografische Selfies, mit denen sie "ihre" Soldaten zum Kampf aufrufen. Es ist auch en vogue, sich die Kriegsparolen auf den Körper tätowieren zu lassen.

STANDARD: Aber ist in "Iphigenie in Aulis" der Krieg nicht eher Staatsräson als Folge einer aufgehetzten Bürgerwehr?

Badora: Die Euripides-Bearbeitung von Soeren Voima, die wir verwenden, enthält sehr viel von dieser Kriegshetze. Voima hat für uns exklusiv Mädchenchöre dazugeschrieben, das sind junge Großstadtgirlies, die zum Krieg aufrufen. Sie sagen: Die Atempause der Geschichte, das war meine Kindheit, doch jetzt ist Schluss mit Stillstand, Sättigung und Langeweile! Aber auch die Staatsräson spielt eine Rolle, klar. Der Streit zwischen den Brüdern Menelaos und Agamemnon nimmt sich wie ein brandaktueller Wahlkampf unter Politikern aus.

STANDARD: Stefano Massinis Text "Occident Express" über die Flucht einer Frau mit ihrer Enkelin aus Mossul hat eine ganz andere Sprache. Wie fügen Sie die verschiedenen Tonlagen in eins?

Augustin: Die inhaltliche Klammer ist klar: Bei Euripides wollen alle in den Krieg ziehen, bei Massini flüchten alle davor. Hier der heroische Mythos Troja, dort die bittere, aber auch "heldenhafte" Geschichte einer abenteuerlichen Flucht.

Badora: Wir wollen aber kein Betroffenheitstheater machen. Wir betrachten die Flucht dieser Frau mit ihrer Enkeltochter als antike Odyssee. Es ist dabei völlig egal, ob eine Flucht sich genau so abgespielt haben kann, ob die Fakten im Detail stimmen oder nicht. Unsere Annäherung ist so, dass die Fluchtgeschichte von den Iphigenie-Figuren erzählt wird. Es geht um unsere Perspektive auf solche Fluchtgeschichten und nicht darum, sie abzubilden oder nachzuahmen.

STANDARD: Massinis Stück folgt einer Suspense-Dramaturgie, in der sich in jeder Episode die Anspannung bis zur Klimax steigert, dann folgt ein Schnitt, und es geht zum Glück gut weiter. Wie gehen Sie mit dem Kitsch um?

Augustin: Stimmt, Occident Express bedient eine Narration, die wir aus Blockbusterromanen kennen. Man entkommt dem paradoxerweise nur, indem man sich darauf einlässt.

STANDARD: Also Flucht nach vorne?

Augustin: Man muss sich trauen!

Badora: Und Sicheinlassen heißt nicht, dass wir uns mit der flüchtenden Frau, die in Massinis Stück ihre Geschichte erzählt, identifizieren. Da würde man direkt in die Betroffenheitsfalle tappen.

STANDARD: Massini ist für seine sich an konkreten politischen Themen entzündenden Stücke bekannt (z. B. zu Anna Politkowskaja oder den Lehman Brothers). Wie schütteln Sie als Regisseurin die Last der banalen Botschaft ab?

Badora: Das Ringen mit dem Stoff ist auch ein Ringen mit Klischees. Aber genau diese Klischees, die wir in den Köpfen haben, wollen wir zeigen.

STANDARD: Haifa, die Hauptfigur, sagt einmal, sie sei bereits vor 2000 Jahren einmal gestorben ...

Badora: ... und sie würde 18.000 Kilometer auf ihrer Flucht zurücklegen. Faktisch kann das ja nicht stimmen. Von Mossul nach Stockholm sind es mit Umwegen vielleicht 5000 Kilometer.

Augustin: Zunächst dachten wir, es seien Übersetzungsfehler, aber bald wurde uns klar: Es ist pure Fiktion. Und genau das hat uns dann am allermeisten interessiert: Wir bekommen in diesem Stück unsere eigenen Phantasmen geliefert. Stefano Massini bietet uns unsere eigene Vorstellung von Flüchtlingen an.

Badora: 18.000 Kilometer klingt einfach besser als 5000. Es sind unsere eigenen Bilder im Kopf, die hier bedient werden. Auch ich ertappte mich einmal, als ich über eine Gruppe von Flüchtlingen am Bahnhof dachte: Das können doch keine Flüchtlinge sein. Dazu sind die doch viel zu adrett angezogen. So überlagert die Fiktion die Realität, und nicht zuletzt darum geht es in Occident Express.

STANDARD: Frau Badora, eine ganz andere Frage: Wie gehen Sie mit dem Abgang von Stefanie Reinsperger um? Sie war ja ein zentrales Ensemblemitglied.

Badora: Junge Schauspieler und Schauspielerinnen müssen sich auch durch Theaterwechsel weiterentwickeln. Stefanie Reinsperger und ich hatten ein enges Vertrauensverhältnis und schon früh darüber geredet. Ich habe an allen Häusern, an denen ich entsprechende Verantwortung trug, junge Talente gefördert, und wenn es gelang, wurden sie von anderen Häusern abgeworben. Wir haben jetzt mit Isabella Knöll eine talentierte Absolventin des Max-Reinhardt-Seminars ans Haus geholt, und mit Sebastian Pass und Peter Fasching zwei großartige Schauspieler, die ihr Können bereits an vielen anderen Bühnen bewiesen haben. Dass Schauspieler an große Häuser weiterziehen, erfüllt einen auch mit Stolz.

STANDARD: Und wie haben Sie Stephan Kimmig, der im Dezember am Volkstheater sein Regiedebüt gibt (mit "Die Zehn Gebote" nach den Filmen von Krzysztof Kieslowski), dem Burgtheater abgeluchst?

Badora: Das war schon lange geplant. Er hat sich gleich nach Bekanntgabe unseres ersten Spielplans für uns interessiert. (Margarete Affenzeller, 2.9.2017)