Wien – Der Mensch strebt nach Anerkennung, Fairness, er liebt Tratsch und Klatsch: All das lässt sich evolutionär daraus ableiten, dass er sich fortpflanzen und seine Gene weitergeben möchte, sagt der Verhaltensökonom Ernst Fehr im STANDARD-Interview. So ergebe es durchaus Sinn, dass der Mensch so stark auf Fairness poche. Als er vor langer Zeit in kleinen Gruppen lebte, gab es immer wieder Kämpfe, sagt Fehr. Nur wer zusammenhielt, konnte sich durchsetzen. Wer ausschert, über den wurde gespottet.

Das geschriebene Interview wurde gekürzt. Das ganze Gespräch, das über eine Stunde dauert, lässt sich hier und als Podcast nachhören (einfach in der App nach "Nachfrage – der Interview-Podcast" suchen).

STANDARD: Sie erforschen den Menschen und sein Verhalten. Was treibt uns denn an, wie ticken wir?

Fehr: Das ist eine viel zu allgemeine Frage. Wir wissen, es gibt verschiedene Typen. Menschen sind mehr oder weniger egoistisch, bereit, Risiken einzugehen oder heute Kosten zu tragen, um morgen Erträge zu erzielen. Da gibt es große individuelle Unterschiede, es gibt sehr geduldige und ungeduldige Leute. Das kann ich beschreiben, nicht den Menschen an sich.

STANDARD: Sigmund Freud meinte, uns treiben zwei Dinge an: der Wunsch nach Fortpflanzung und das Streben nach Anerkennung.

Fehr: Ich weiß nicht. Ich habe den Drang nach Fortpflanzung nie verspürt.

STANDARD: Und es trotzdem getan. Sie sind Vater zweier Kinder.

Fehr: Ja, aber die Leute gehen doch nicht ins Bett, um ein Kind zu produzieren, sondern weil sie Freude an der Sexualität haben. Heute können wir das mit Verhütung steuern, aber selbst wenn ich ein Kind will, geht es mir nicht um die Fortpflanzung, sondern um die Freude am Kind.

Treibt viele Menschen an: Der Wunsch nach Kindern.
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STANDARD: Funktioniert die Evolution nicht gerade deshalb so gut, weil sie kein Bewusstsein darüber erfordert, warum wir tun, was wir tun?

Fehr: Da muss man zwischen den Motiven der Fortpflanzung und den Konsequenzen selbst unterscheiden. Sie haben völlig recht. Unser Wunsch nach sozialer Anerkennung ist eine der Hauptwährungen, in denen wir bezahlt werden. Das kann ich übrigens nicht beweisen, das ist meine Hypothese, die aber sehr plausibel ist. Wir wissen, dass es einer der größten Stressfaktoren für einen Menschen ist, wenn er seine soziale Reputation verliert.

STANDARD: Schließt sich da nicht der Kreis? Reputation macht es einfacher, sich fortzupflanzen.

Fehr: Das ist eine plausible Hypothese. Aber man muss klar sehen, dass das eine Hypothese ist. Das können wir nicht belegen. Es erklärt aber wahrscheinlich viele Details in unserem Verhalten.

STANDARD: Sie haben auch entdeckt, welch wichtige Rolle Fairness für den Menschen hat. Es geht ihm nicht nur um den Eigennutz.

Fehr: Ja, in vielen Fällen leitet das unser Verhalten. In der Politik ist das sehr häufig. Wenn die Leute abstimmen oder protestieren, geht es oft um Verletzungen von Fairness. Man kann sogar sagen, dass ein Teil der Ausländerfeindlichkeit auf wahrgenommene Verletzungen der Fairness zurückzuführen ist. Vor allem Leute aus unteren sozialen Schichten, die sich zu kurz gekommen fühlen, haben häufig den Eindruck, dass sich die Politik um Migranten kümmert und sie vernachlässigt. Wir haben in Österreich alle paar Jahre eine Sozialschmarotzerdebatte, die wird gar nicht immer von rechts ausgelöst, da beteiligen sich auch Sozialdemokraten. Der Gedanke der Reziprozität spielt hier eine große Rolle, wenn die Gesellschaft einem in schwierigen Situationen hilft, dann sollte man auch etwas zurückgeben.

Wir streben danach, unsere Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Dabei spielt auch Fairness eine große Rolle, sagt der Ökonom Ernst Fehr, denn wir mussten lange in Gruppen überleben.
Foto: STANDARD

STANDARD: Die Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen werden lauter. Das passt dann nicht dazu, oder?

Fehr: Ich bin skeptisch. Es verletzt wesentliche Reziprozitätsgebote unserer Gesellschaft. Ich glaube, dass sich Subkulturen herausbilden würden, die von diesem Einkommen leben, aber nicht viel an die Gesellschaft zurückgeben würden. Das wäre langfristig wohl kein stabiler politischer Zustand. Die Mehrheit würde es nicht dulden, dass Leute wenig zur Gesellschaft beitragen, aber von ihr profitieren. Das Grundeinkommen ist fundamental inkompatibel mit unseren normativen Grundprinzipien.

STANDARD: In einem Experiment haben Sie gezeigt, dass Menschen für Fairness sogar finanzielle Einbußen in Kauf nehmen.

Fehr: Das sehen wir in Experimenten. Das Ultimatumsspiel ist ein gutes Beispiel. Ein Proband bekommt zehn Euro, er kann es beliebig mit einem Zweiten teilen. Die Bedingung ist, dass er nur einen Vorschlag machen kann und der andere nur Ja oder Nein sagen darf. Bei einem Ja wird der Vorschlag implementiert, im Falle eines Neins bekommen beide nichts. Wenn der Proband jetzt vorschlägt, dass er sieben Euro behält und dem Zweiten drei Euro gibt, wird das oft abgelehnt. Dann haben aber beide nichts. Der Zweite nimmt also in Kauf, dass er drei Euro verliert, damit der Erste auch nichts erhält, da die Aufteilung als völlig unfair angesehen wird.

STANDARD: Lässt sich auch das evolutionär ableiten?

Fehr: Es gibt das Argument der Gruppenselektion. Gruppen, die Trittbrettfahrer härter bestraft haben, waren erfolgreicher in kriegerischen Auseinandersetzungen. Es war sehr häufig in der Evolution, dass sich benachbarte Gruppen von 50, 60 Leuten gegenseitig überfallen haben. Die Teilnahme an den Kämpfen war gefährlich, viele haben sich verletzt. Individuell hatte man den Anreiz, sich hinter dem Busch zu verstecken und zu warten, bis es vorüber ist. Desertieren im Krieg ist immer schon hart bestraft worden, noch lange bevor es reguläre Armeen gegeben hat. Man hat den Betroffenen das Vieh gestohlen, ihre Ernte zertrampelt oder sie in der Gruppe missachtet. Auch wenn das individuell kostspielig gewesen sein mag, war es aus der Sicht der Gruppe gut.

Schon lange bevor es Armee gab, musste der Mensch kämpfen. Desertieren ist immer schon hart bestraft worden, sagt Fehr.
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STANDARD: Kommt daher auch unsere Vorliebe für Klatsch und Tratsch über Bekannte?

Fehr: Ja, das ist auch eine Form der Sanktion. Klatsch und Tratsch ist hervorragend geeignet, um sozialen Druck auszuüben. Da gibt es wunderbare Beispiele aus einfachen Gesellschaften. Die haben keinen Fernseher und sitzen viel beisammen. In manchen Stämmen obliegt es dann der Frau, die Männer zu kritisieren. Wenn sich Männer gegenseitig kritisierten, würde das gleich eskalieren. Also kritisiert die Frau den Mann einer anderen Familie, wenn er etwas Böses gemacht hat.

STANDARD: Wir konkurrieren auch um unsere Reputation. Sie haben einmal geschrieben, dass das sogar effizient sein kann. Warum?

Fehr: Normalerweise ist der Wettbewerb um Status negativ. Status kann man nicht vermehren. Bei zehn Individuen gibt es zehn Ränge, den ersten kann nur jemand erreichen, wenn ihn ein anderer verliert. Er ist ein knappes Gut und nicht vermehrbar. Jeder Wettbewerb darum ist ein Nullsummenspiel. Statuskonsum – wenn Sie sich also zum Beispiel einen Porsche aus Statusgründen kaufen – führt zu sozial ineffizienten Konsummustern.

STANDARD: Aber?

Fehr: Wenn Männer evolutionär gesehen um hohen Status konkurriert haben, konnten sie aber auch zu einer besseren Fortpflanzung beitragen. Wenn sie sich beim Walfang oder der Jagd etwa nach Wildtieren mehr angestrengt haben, machten sie etwas Gutes für die Gruppe. Auf diese Art und Weise ist Statuskonkurrenz etwas Nützliches.

Einen Porsche aus Statusgründen kaufen – das ist sozial ineffizient, sagt Fehr.
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STANDARD: Geht ein Verhaltensökonom eigentlich anders einkaufen? Eine berühmte Studie ging circa so: Es gibt zwei Fernseher, einer kostet 500, der andere 800 Euro. Wenn ich als Unternehmen einen um 900 dazustelle, bringe ich viele Konsumenten dazu, den um 800 Euro zu kaufen. Wir kaufen einen "guten", der aber nicht der teuerste ist.

Fehr: Das ist ein berühmtes Beispiel, wie man Menschen zu Entscheidungen manipulieren kann, indem man ihnen gezielt irrelevante Alternativen gibt. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich wegen meiner Forschung anders entscheide. Ich gehe aber auch fast nie einkaufen, ich kaufe vielleicht alle paar Jahre einmal Schuhe und dann dafür gleich vier Paare. Ich bin ein schlechtes Beispiel. Zum Beispiel weiß ich, dass man am Aktienmarkt mehr verdient als mit einem Sparbuch, habe aber trotzdem keine Lust, mich damit auseinanderzusetzen.

STANDARD: Sie waren als Student Teil des Roten Börsenkrachs, einer der Ökonomie gegenüber sehr kritischen Wiener Gruppe. Hat sich Ihre Meinung geändert?

Fehr: Die Ökonomie hat sich extrem verändert. Wenn wir stehengeblieben wären, wäre das eine mittlere Katastrophe. Die Ökonomie hat mehrere Revolutionen hinter sich, eine experimentelle, eine verhaltensökonomische und eine empirische. Sie ist von einer Disziplin, die sich in erster Linie an mathematischen Modellen erfreut, zu einer geworden, die empirisch relevantes Wissen erzeugt, das politisch und für die Gesellschaft von hohem Wert ist.

STANDARD: Seit der Krise wird die Ökonomie aber häufig kritisiert, viele sehen sie als einseitig an.

Fehr: Die Ökonomie ist eine der dynamischsten Sozialwissenschaften, weil sie sich einem radikalen Wandel unterzogen hat. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, weiß das. Natürlich gibt es auch Mängel und unzureichendes Wissen. Die besten Ökonomen sind häufig die größten Kritiker des Wissensstandes, sie kennen die Schranken des Wissens. In diesem Sinne bin ich nach wie vor kritisch. Wir wissen etwa nicht, warum wir beim vorherigen Beispiel mit den Fernsehern so entscheiden, wie wir entscheiden. Aber wir sind auf dem Weg. Es ist extrem viel Fortschritt im Gange. (Andreas Sator, 2.9.2017)