Ein Teil des noch kompletten Konvois, noch mit Rettungswagen: Der IS reist in klimatisierten Bussen.

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Damaskus/Wien – Der "Islamische Staat": ein humanitärer Fall? Wenn es nach den Darstellungen ausgerechnet der libanesischen Hisbollah geht, dann gilt das zumindest für eine Gruppe von IS-Kämpfern in Syrien. "Ausgerechnet" deshalb, weil ja Daesh, so die arabische Bezeichnung für den IS, das erklärte Ziel hat, die Schiiten im Nahen Osten auszumerzen. Und dennoch bemüht sich die schiitische Hisbollah, eine Gruppe von "Daeshis" in Sicherheit zu bringen.

Ein Buskonvoi mit IS-Kämpfern und deren Familien, ursprünglich etwa 600 Menschen, sitzt seit einigen Tagen in der ostsyrischen Wüste fest. Die USA sorgen aus der Luft dafür, dass die Busse nicht, wie geplant, in IS-kontrolliertes Gebiet an der irakischen Grenze weiterfahren können, und verhindern, dass den Konvoi Hilfe von IS-Seite erreicht. Dabei haben sie die Straße und eine Brücke auf dem Weg zerstört sowie eine Gruppe von etwa 85 IS-Kämpfern, die sich dem Konvoi nähern wollten, getötet.

Von den USA gestoppt

Die 17 Busse und elf Rettungsfahrzeuge hatten sich im Rahmen eines Deals zwischen IS und Hisbollah, mitgetragen vom syrischen Regime, in Bewegung gesetzt. Die Businsassen sind IS-Kämpfer und ihre Angehörigen aus einer kleinen Enklave an der syrisch-libanesischen Grenze nahe Arsal im Libanon, die der IS im August nach schweren Kämpfen aufgeben musste.

Als der Konvoi das vom syrischen Regime kontrollierte Gebiet verlassen wollte, wurde er von den Luftangriffen der US-geführten Anti-IS-Koalition gestoppt. Auch Alternativrouten wurden abgeschnitten. Die Anwesenheit von Kindern, schwangeren Frauen und Alten hält die USA davon ab, den Konvoi direkt zu bombardieren. Am Sonntag hieß es, die Koalition habe die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln gestattet, das blieb jedoch unklar. Ein Teil des Konvois ist inzwischen offenbar wieder auf Regimegebiet zurückgekehrt, auch die Rettungsfahrzeuge mit 26 Verletzten haben den Konvoi verlassen.

Gegengeschäft mit Toten

Die Gegenleistung, die die Hisbollah ausgehandelt hat, besteht bis auf die Freilassung eines Gefangenen aus der Herausgabe von Leichen: unter anderem jenen von neun libanesischen Soldaten, die der IS 2014 gefangen genommen hat. Acht wurden umgebracht, einer schloss sich dem IS an und starb bei Kämpfen.

Deshalb versucht Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah, der sich für den Deal vorige Woche in Damaskus den Segen von Bashar al-Assad holte, das Arrangement als eine große Tat im Interesse des libanesischen Staates zu verkaufen.

Das ärgert viele Libanesen aus den der Hisbollah und Assad entgegengesetzten Lagern: Denn bei Arsal, wo der IS aufgeben musste, hat auch die libanesische Armee gekämpft. Nasrallah pries sie zwar in seiner Rede, die er am Donnerstag hielt, aber die libanesische Armee und die libanesische Regierung sehen wieder einmal so aus, als wären sie auf die Hisbollah als die stärkste Kraft im Staat angewiesen. Und von moralischen Abwägungen abgesehen, fragen sich auch viele, wie es möglich ist, dass die Hisbollah so ohne weiteres Kontakte zum IS herstellen kann.

Präzedenzfälle

Die syrischen Staatsmedien und der Iran – der ebenfalls einen Toten vom IS zurückbekommen hat – schweigen weitgehend zum Deal. Der Irak hingegen, wo in der letzten Zeit der IS dramatisch zurückgedrängt wurde, ist schwer verärgert, dass neue schlachterprobte IS-Kämpfer direkt an seine Grenze geliefert werden. Auch die USA wollen den Reimport neuer Daeshis in Gebiete, in denen sie Daesh bekämpfen, nicht akzeptieren.

So abenteuerlich sich die Geschichte jedoch anhört: Neu sind solche Deals nicht. Das syrische Regime hat im Rahmen lokaler Waffenruhevereinbarungen immer wieder islamistische Kämpfer in von Rebellen gehaltene Gebiete abziehen lassen.

Auch das Entkommenlassen des IS hat eine gewisse Tradition: Vor der Schlacht von Raqqa gab es einen Versuch der Syrian Democratic Forces (SDF), der von den USA gestützten kurdisch dominierten Miliz, IS-Kämpfer loszuwerden, indem man sie nach Deir ez-Zor ziehen lässt. Dort kämpfen das syrische Regime und die Russen gegen den IS. Damals ließ Russland den Abzug der Daeshis nicht zu. Deshalb steht die Überlegung im Raum, dass es den USA auch um eine Retourkutsche gegen die Russen geht. (Gudrun Harrer, 3.9.2017)