Ungarische Häftlinge verstärkten Ende 2016 einen zweiten Zaun an der Grenze zu Serbien.

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Die Mühlen des Rechtsstaats in der Europäischen Union mahlen langsam, aber sie mahlen in Grundfragen am Ende gut. Das zeigen das jüngste Erkenntnis der Höchstrichter in Luxemburg und deren Begründung, warum die Klagen von Ungarn und der Slowakei gegen das von den Innenministern beschlossene System der EU-weiten Verteilung von Flüchtlingen abgelehnt wurden.

Es könnte eindeutiger nicht sein. Genau gesagt geht es um erstgeprüfte Asylwerber, die bereits in einem regulären Aufnahmeverfahren in Griechenland und Italien erfasst sind, und nicht um irgendwelche Migranten, wie Skeptiker oft glauben machen. Anders, als die Regierungen in Budapest und Bratislava behaupten, sind sowohl der EU-Kommission wie auch dem Ministerrat in den Sommermonaten 2015 mit hunderttausenden Migranten auf der Balkanroute beim Quotensystem keine formellen Fehler unterlaufen.

Das ist nun rechtlich unbestreitbar. Viktor Orbán, Ungarns Rechtsaußenpremier, wie auch Robert Fico, sein slowakisches Pendant von der Linken, hatten geglaubt, sie könnten mit rechtlichen Spitzfindigkeiten die gemeinsamen Beschlüsse auf EU-Ebene wieder aushebeln, die Zeit zurückdrehen.

Vergeblich. Über den Anlassfall hinaus noch wichtiger ist, dass der EuGH den Regierungschefs der Union ausdrücklich bescheinigt, dass diese in einer Notlage die ihnen gemäß EU-Verträgen zustehenden Entscheidungsspielräume nicht einmal ausgeschöpft haben. Mit einem Wort: Das damalige Ansinnen der EU-Spitzen, dass eine Gemeinschaft sich als Ganzes solidarisch verhalten muss und einzelne Staaten sich dabei dem Willen der Mehrheit anschließen müssen, wurde gestärkt.

Das ist keine große Überraschung. Denn darum geht es in der Union letztlich. In einem jahrzehntelangen Annäherungs- und Integrationsprozess haben die Mitgliedsländer auf (immer mehr) Teile ihrer staatlichen Souveränität, der Alleinzuständigkeit, verzichtet. An deren Stelle tritt einerseits der gemeinsame Nutzen, etwa indem die reicheren Staaten die ärmeren wie Polen, Ungarn und die Slowakei mit milliardenschweren EU-Hilfen fördern.

Auf der anderen Seite wird die vor der EU-Mitgliedschaft bestehende volle Souveränität der Staaten mit dem Eintritt in die "Schicksalsgemeinschaft" durch die gemeinsame Verantwortung ersetzt. Das ist das prinzipiell Bedeutende an dem Richterspruch, über die Migrationspolitik hinaus.

Es gilt bei der gemeinsamen Agrarpolitik und in der Währungspolitik im Euro, in Sicherheitsfragen ebenso wie bei der uneingeschränkten Gültigkeit der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in allen Staaten und für alle EU-Bürger, egal wo sie wohnen. Kein Zufall, dass Ungarn (und vor allem Polen) auch damit immer wieder Probleme hat. Der Nationalstaat hat seine Grenzen. Er kann sich nicht ausgrenzen aus der Union, wenn es in einer Sache unangenehm wird. Dieses Grundprinzip gilt insbesondere dann, wenn die Europäer sich bemühen, eines der größten Probleme unserer Zeit – Flucht und Armutsmigration – zu lösen. Die Mehrheit entscheidet. Nicht der Lauteste.

In Ungarn ist bessere Einsicht nicht so schnell zu erwarten. Orbán hat 2018 Wahlen zu schlagen, er dürfte daher von seinem starrsinnigen Kurs gegen "Brüssel" oder "die EU", wie er das nennt, kaum abrücken. Es sollte die Partner nicht abhalten, bei Grundrechten und -pflichten Härte zu zeigen. (Thomas Mayer, 6.9.2017)