Einst gut gemeinte Entscheidungen können sich später als destruktiv erweisen. Dann gilt es zu handeln.

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Der dänische Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

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Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Frage

Ich bin alleinerziehende Mutter eines vierjährigen Mädchens. Seit ihrer Geburt trage ich ihr gegenüber ein Geheimnis in mir, das mir nun immer mehr bewusst wird. Ihr Vater ist ein verheirateter Mann, der mit unserer gemeinsamen Tochter nichts zu tun haben möchte. Zu Beginn war die Entscheidung, mich deshalb von ihm zu trennen, eine sehr pragmatische. Es war wunderschön, Mutter zu sein, und es gab grundsätzlich keine Probleme – außer dass ich wenig Kontakt zu meiner eigenen Familie habe und deshalb sehr auf mich allein gestellt bin.

Seit der Kindergartenzeit kommen nun die ersten Fragen, warum es bei uns keinen Papa gibt. Meist weiche ich diesen Fragen aus und gebe keine konkrete Antwort. Außerdem mache ich mir Gedanken darüber, ob die sich nun verstärkt zeigende Aggressivität meiner Tochter im "normalen" Entwicklungsrahmen liegt oder ob sich hier auch Wut gegen mich zeigt, weil sie keinen Papa hat.

Am meisten beschäftigt mich, dass ich nicht gut genug bin und dass unsere Familienkonstellation zum Scheitern verurteilt ist. Welchen Rat können Sie mir geben?

Antwort

Es tut mir sehr leid zu lesen, dass das große Geschenk, das Kinder für uns sind, bei Ihnen unter etwas schwierigen Umständen angekommen ist. Aus verschiedensten Gründen hat sich bei Ihnen eine Situation eingestellt, die von Ihnen verlangt, sehr kontrolliert zu sein, damit Sie sich sicher fühlen. Ich interpretiere das als eine Art Überlebensstrategie. Ihre Tochter betreffend haben Sie bestimmt einige gut durchdachte Entscheidungen getroffen – und dennoch erweisen sich diese als destruktiv.

Bei der Geburt Ihrer Tochter gab es aus meiner Sicht mehrere Möglichkeiten: Sie hätten auf der Beziehung mit dem Vater und auf der zwischen Tochter und Vater bestehen können. Das hätte unter Umständen bedeutet, dass er die Kontrolle über sein Familienleben verloren hätte. Bei einer intakten Vater-Tochter-Beziehung wären die Fragen, die Ihre Tochter heute stellt, kein Thema. Sie haben sich für jene Variante entschieden, den Vater aus Ihrem Leben völlig auszuklammern. Diese Konstellation ist allerdings eine tickende Zeitbombe, und es werden vermutlich alle Beteiligten dadurch Schaden nehmen. Auch wenn es grausam klingt: Ihre Entscheidung war für Ihre eigenen Bedürfnisse wichtig, nicht für die Ihrer Tochter.

Nun zeigt Ihre Entscheidung früher Konsequenzen als erhofft. Aus meiner Sicht ist es für alle das Beste, wenn Sie Ihrer Tochter die ganze Wahrheit sagen. Je schneller das geschieht, desto besser wird es für alle sein. Wenn der Vater keine Beziehung zu seiner Tochter möchte, so muss er ihr das persönlich vermitteln. Entweder von Angesicht zu Angesicht oder in einem Brief.

Ihr Geheimnis ist für Ihre Tochter genauso destruktiv wie für Sie. Wenn der Vater behauptet, dass all das hinter ihm liegt, so belügt er sich selbst. Ich schlage Ihnen nicht vor, dass Sie sich in sein Familienleben einmischen sollen. Aber Sie sollten ihn und auch sich selbst auf den Tag vorbereiten, an dem Ihre Tochter das macht. Je länger Sie damit warten, umso unglücklicher wird sich Ihre Tochter fühlen – und umso mehr wird sie Sie "hassen".

Meine Schlussfolgerung ist, dass Sie ihr die ganze Wahrheit erzählen sollten. Eventuell sollten Sie Ihr auch erklären, wie und warum Sie die Entscheidung gegen Ihren Vater getroffen haben. Andernfalls erwartet Sie eine unendliche Geschichte an Problemen für Sie und Ihre Tochter. Ich bin davon überzeugt, dass Ihre moralische Integrität Ihnen den richtigen Weg weisen wird und Sie zu einer Entscheidung gelangen, die Ihr Leben wieder lebenswerter und entspannter macht. (Jesper Juul, 10.9.2017)