Vranitzky beim Interview im Bruno-Kreisky-Forum zu seinem neuen Buch. Es ist auch eine Absage an den Populismus und an zu viel "direkte Demokratie", weil sie missbrauchsanfällig sei.

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STANDARD: Herr Dr. Vranitzky, das Generalthema Ihres neuen Buches (aufgezeichnet von Peter Pelinka) ist der verlorene Respekt in der Politik. Zwischen Politikern, aber auch zwischen Politikern und Bürgern. Sie schreiben, zu Ihrer Regierungszeit habe man zwar mit den ÖVP-Vizekanzlern Mock und Busek inhaltliche Auseinandersetzungen gehabt, aber dann gemeinsame Beschlüsse gefasst, etwa bei der Rettung der Verstaatlichten. Verklärung der Vergangenheit?

Franz Vranitzky: Ich stehe dazu, dass damals auch unter Andersdenkenden die Achtung größer war. Wenn ich sage "Zurück zum Respekt", dann meine ich, dass die Menschen heute mit so viel Unsicherheiten konfrontiert sind, dass sie von der Politik nicht mehr erreichbar sind. Das hat viele Ursachen: auch die sozialen Netze, aber man erlebt auf allen Ebenen Verhaltensweisen, dass sich Politiker, Regierungen, Staaten nicht mehr an Verträge halten: Klimaschutz, Ungarn, Polen mit den Flüchtlingen. Oder dass man sehr militante Ansagen trifft – Erdogan. Die Bürger sagen dann, das hat alles keinen Sinn.

STANDARD: Es geht den allermeisten Bürgern nach wie vor sehr gut, trotzdem ist eine unglaubliche Wut spürbar, aber auch eine Anti-Eliten-Stimmung, wie Sie es nennen. Hat das mit der existenziellen Verunsicherung der Bürger zu tun – durch Finanzkrise und Arbeitsplatzängste, aufgrund dessen, dass es keine lebenslangen Vollzeitjobs mehr gibt, die Jugend ins Prekariat abrutscht?

Vranitzky: Das hängt sicher damit zusammen, aber die Rahmenbedingungen haben sich elementar verändert. In den 1980er- und 90er-Jahre hat es kein Flüchtlingsproblem in dem Ausmaß gegeben ...

STANDARD: Anfang der 1990er-Jahre kamen 90.000 Bosnier aus dem Jugoslawienkrieg.

Vranitzky: Das trifft zu, aber heute sind es nicht nur viel mehr, sondern sie kommen auch aus anderen Kulturkreisen, mit teilweise recht aggressiven Religionsvorstellungen. Und: Die ganze Berufswelt ist mit der digitalen Revolution konfrontiert. Es gab damals mehr Stabilitätspunkte. Man musste mit der US-Politik nicht einverstanden sein, aber man wusste, dass im Weißen Haus rational regiert wird.

STANDARD: Ihre letzte Wahl war 1995, da hat die SPÖ 38 Prozent erreicht. Ist die Situation der Sozialdemokratie in Österreich heute hoffnungslos? Kann Kern das noch einmal schaffen?

Vranitzky: Hoffnungslos ist die Situation so gut wie nie. Ich traue Christian Kern schon zu, dass er in den verbleibenden Wochen bis zur Wahl mit seiner Überzeugungskraft und seinem Engagement und seiner sichtbar optimistischen Art, die Position noch maßgeblich verbessert. Daher ist der erste Platz nicht außer Reichweite.

STANDARD: Wie könnte Kern das schaffen?

Vranitzky: Die gute Wirtschaftslage kommt ihm zweifellos zugute, es ist ja nicht falsch, was er da sagt. Aber von der Warte der Sozialdemokratie aus hoffe ich, dass zutage tritt, dass die politischen Gegenspieler noch keine von Plausibilität erfüllten Programme veröffentlicht haben. Es zeigt sich, dass die auf ziemlich dünnem Eis daherkommen. Die steuerpolitischen Vorstellungen von ÖVP und FPÖ – da halten die angebotenen Zahlen, vor allem bei der Finanzierung, einer strengen Prüfung nicht stand. Das ist eher fiskalisches Kauderwelsch.

STANDARD: Trotzdem hat Sebastian Kurz einen guten Lauf, auch weil er Veränderung ankündigt, ohne radikal zu wirken. Wie schätzen Sie ihn ein?

Vranitzky: Er hat bisher in erster Linie über das Flüchtlingsthema gesprochen, und als Außenminister hat er etliche Gegenüber, z. B. die Deutschen, wissen lassen, dass sie vieles falsch machen und er es richtig sieht. Wenn es darum geht, wer der nächste Regierungschef sein soll, dann müsste man ja die Erwartungen an den Kandidaten Kurz viel höher schrauben. Er brilliert im Boulevard, aber wenn man Fragen stellt, was die Digitalisierung für die Leistungsfähigkeit der Industrie bedeuten wird, für die Arbeitsplätze, wenn man nach Sicherheit der Pensionen und der Gesundheitsversorgung fragt, sind bisher noch keine Antworten gekommen. Ich sehe da für einen Regierungschef keine ausreichende Substanz.

STANDARD: Apropos Boulevard: Sie schreiben in Ihrem Buch, Kreisky habe die "Krone" groß gemacht, indem er sie mit Informationen gefüttert habe. Spätere Kanzler haben den Boulevard auch gefüttert, aber mit Inseratenmillionen (ohne dass es etwas gebracht hätte). Wie stehen Sie dazu?

Vranitzky: Kritisch.

STANDARD: Sie schreiben, dass die SPÖ heute kein klares Zielpublikum mehr hat. Aus Arbeitern wurden Kleinbürger, und die wählen jetzt FPÖ.

Vranitzky: Die Sozialdemokratie in ganz Europa ist mit einem erheblichen gesellschaftlichen Wandel konfrontiert. Es ist offensichtlich nicht gelungen, da zu reagieren. Die sozialdemokratische Idee ist ja nicht gestorben – sozialer Ausgleich, soziale Sicherheit, das gilt ja unbestritten. Aber der Bürger muss sich in der Politik wiederfinden, und da ist noch einiges zu tun. Kern hat das Potenzial dazu.

STANDARD: Aber er steht ziemlich allein in der SPÖ.

Vranitzky: Ich bin da nicht so pessimistisch. Aber man darf nicht vergessen, er ist ja eigentlich ein Newcomer. Und so viel Zeit hat er noch nicht gehabt, um die Partei zu reformieren, um die Regierungsarbeit mit einem komplizierter gewordenen Partner zu optimieren. Der Zeitfaktor spielt sicher eine Rolle.

STANDARD: Gebt Kern mehr Zeit, selbst wenn er in die Opposition gehen muss?

Vranitzky: Ich will mich mit der Oppositionsrolle nicht beschäftigen. Aber egal ob Opposition oder nicht, um die Arbeit an sich selbst wird die Partei nicht herumkommen.

STANDARD: Kern hat gesagt, dass er, wenn die SPÖ nicht Erster wird, in Opposition geht – wobei die Frage ist, ob die Partei ihn dann noch lässt. Damit hat er andere Varianten ausgeschlossen – Juniorpartner mit der ÖVP. Was halten Sie davon?

Vranitzky: Diese Diskussionen führen zu nichts. In dieser nicht enden wollenden Koalitionsdebatte wird die Aufmerksamkeit der Wähler zu einseitig in Anspruch genommen.

STANDARD: Sie sind der Erfinder und Praktikant der Abgrenzung zur FPÖ. Gilt das noch? Ist Rot-Blau möglich?

Vranitzky: Zunächst hat sich die Partei entschieden, durch den Parteitagsbeschluss eine solche Koalition auszuschließen. Auf Landesebene gibt es schon Koalitionen mit der FPÖ. Das ist der Status quo, und ich sehe keinen Grund, davon abzugehen.

STANDARD: Stichwort sozialer Ausgleich: Sie sagen in Ihrem Buch, Österreich habe zu wenige Reiche für eine Umverteilung. Das ist eigentlich gegen den Slogan "Holt euch, was euch zusteht".

Vranitzky: Nein. Ich interpretiere das ja nicht im Abholen irgendwelcher Geldbeträge, sondern "was euch zusteht" ist das Angebot, das der Staat macht. Das ist Bildung, das ist Gesundheit, soziale Sicherheit. Ich füge aber hinzu, dass die nächste politische Periode dem große Aufmerksamkeit zuwenden muss. Ich bin z. B. mit dem Universitätssystem höchst unzufrieden.

STANDARD: Kehren wir noch einmal zum großen Thema Wiedergewinnung des Respekts in Zeiten verschärfter Auseinandersetzung zurück. Viele Menschen sind ja mit dem "System" unzufrieden. Da heißt es dann, gerade von Rechtspopulisten: "mehr direkte Demokratie", mehr Volksabstimmungen.

Vranitzky: Mit dem Instrument "direkte Demokratie" sollte man sehr vorsichtig und zurückhaltend umgehen, weil die Gefahr sehr groß ist, dass Fragen beantwortet werden, die gar nicht gestellt wurden. Und weil dieses Instrument einer schrankenlosen Demagogie Tür und Tor öffnet, weil komplexe Zusammenhänge mit Ja oder Nein beantwortet werden müssen, ohne dass sich der Bürger ein klares Bild machen kann.

STANDARD: Direkte Demokratie, Rechtspopulismus, Anti-Eliten-Stimmung – der sogenannte einfache Mann rebelliert gegen die Eliten und wählt dann neue Eliten wie Herrn Trump, der sicher nicht den Interessen des kleinen Mannes entspricht. Sind die Leut' deppert?

Vranitzky: (lange Pause) Also jeder denkende Mensch verwahrt sich dagegen, die Bevölkerung als dumm zu bezeichnen. Aber das Gespür der Menschen kann missbraucht werden. Ich komme zu meinem Credo zurück: Der seriöse Politiker muss die Leute überzeugen – dass das für sie Sinn hat.

STANDARD: Politiker, die miteinander respektvoll umgehen, steigen am Ende besser aus?

Vranitzky: Ich bin überzeugt davon. Die Anfeindungen, die Untergriffe, die Beschimpfungen setzen das Ansehen der Politik herab. Auf Aggression folgt Gegenaggression. Am Schluss gibt die Bevölkerung dann nicht dem die Schuld, der das ausgelöst hat, sondern allen. (Hans Rauscher, 10.9.2017)