Das Chaos ist total auf Saint-Martin, wo der Hurrikan Irma 95 Prozent der Behausungen beschädigt, wenn nicht verwüstet hat. Die Verwaltung des Inselgefängnisses Pointe-Blanche hatte zuerst gewarnt, 250 Häftlinge seien durch eine Mauerlücke entwichen. Später wurde die offizielle Mitteilung dementiert. Die Behörden scheinen trotzdem völlig überfordert. Geschäfte, Restaurants und Villen werden oft gewaltsam geplündert.

Eine Sprecherin der Gendarmerie erklärte, gestohlen würden vor allem Hi-Fi- und Luxusprodukte, aber auch Nahrungsmittel. In vielen Haushalten gebe es schlicht nichts mehr zu essen. "In dem Fall sehen wir von Rechtsfolgen ab und verlangen die Rückgabe des Essens", meinte die Sprecherin.

95 Prozent der Gebäude auf Saint-Martin sind beschädigt.
Foto: AFP PHOTO / Martin BUREAU

Fremdenlegionäre nach Saint-Martin

Die Regierung in Paris ist daran, die Zahl der Sicherheitskräfte von 1.100 auf 2.000 aufzustocken – inklusive Fremdenlegionären. Letztere sollen am Dienstag per Flugzeug auf Saint-Martin und dem benachbarten Saint-Barthélemy eintreffen. "Bis dahin ist mein Laden längst leer", beklagte sich ein asiatischer Kleinhändler. Die von den Sturmschäden arg getroffenen 37.000 Einwohner des französischen Inselnordens – der Süden gehört zu Holland – beklagen sich lauthals über die grassierende Unsicherheit, die ihnen das Leben nach dem Sturm noch schwieriger macht.

Schätzungsweise 500 bis 600 Plünderer seien mit Macheten unterwegs, heißt es aus Polizeikreisen. In Paris verlangen Oppositionsparteien eine Untersuchungskommission wege der späten Reaktion der Behörden.

Fremdenlegionäre auf dem Weg in die Karibik.
Foto: APA/AFP/HELENE VALENZUELA

Ausgangssperre

Die französischen Behörden haben eine Ausgangssperre von 19 Uhr abends bis 7 Uhr morgens verhängt. Überseeministerin Annick Girardin erklärte am Sonntag, die Plünderungen hätten aufgehört. Journalisten vor Ort stellen das aber in Abrede und berichten sogar von Schüssen auf Gendarmen.

Im fernen Mutterland hören die Franzosen erstmals von den sozialen Hintergründen. Saint-Martin ist viel weniger bekannt als die südlich gelegenen Reisedestinationen Guadeloupe und Martinique – oder auch das nahe gelegene Saint-Barthélemy, kurz Saint-Barth genannt, das Luxusparadies des internationalen Jetsets. Der französische Gesangsstar Johnny Hallyday hat dort sein Haus den Sturmopfern geöffnet.

Auch die französische Feuerwehr hilft vor Ort.
Foto: AFP PHOTO / Martin BUREAU

50 Prozent unter der Armutsgrenze

Auf Saint-Martin lebten schon vor dem Wirbelsturm mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Villenviertel grenzen an eigentliche "Banlieue-Zonen" wie Sandy Ground und Orléans. Immerhin ist der Lebensstandard der von Frankreich stark subventionierten "Konfettis" – wie die Relikte des französischen Kolonialreichs genannt werden – noch höher als in armen Nachbarstaaten wie Haiti, Kuba und Dominikanische Republik. Die illegalen Zuwanderer sind zahlreich auf Saint-Martin, wo 30 Prozent der Bevölkerung ausländischer Herkunft sind.

Hoch ist auch die Kriminalitätsrate. 2015 wurden 3.400 Straftaten registriert. Venezolanische Verbrecherbanden wie "42 Seconds" und "No Limit Soldiers" kontrollieren die Prostitution und den Drogenhandel – sowohl für Cannabis aus Jamaika wie für Kokain aus Kolumbien soll Saint-Martin ein letzter Umschlagplatz sein. (Stefan Brändle aus Paris, 11.9.2017)