Eine Passantin mit Atemmaske im versmogten Peking vor einem Plakat, das eine heilere Umwelt zu versprechen scheint. Die chinesische Regierung verspürt Druck, die Luftqualität zu verbessern.

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Historisch betrachtet, schwingt ein Pendel zwischen Staat und Markt, schreibt der Star-Ökonom Paul De Grauwe von der London School of Economics in seinem jüngsten Buch. Nach der Finanzkrise wird der Staat sich wieder stärker einmischen, ist der Belgier überzeugt. Die Gegenreaktion auf die von Marktkräften voran getriebene Globalisierung könnte unseren Wohlstand aber gefährden, wenn die Probleme der Ungleichheit und Umweltverschmutzung nicht bald gelöst werden, sagt der Ökonom im STANDARD-Interview.

"Ohne die Briten werden Reformen in der EU wieder leichter." Der belgische Ökonom Paul De Grauwe sprach auf Einladung der Wirtschaftskammer über die Zukunft des Euro und den Brexit.
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STANDARD: In Ihrem jüngsten Buch geht es um die historische Pendelbewegung zwischen Markt und Staat im Wirtschaftssystem. Derzeit verliert wieder der Markt an Dominanz. Gab es eine goldene Mitte, die überschritten wurde?

De Grauwe: Ein optimaler Zeitpunkt ist in diesem Prozess schwer festzulegen. Der Umschwung kam aber mit der Finanzkrise. Davor erlebten wir seit den 1980ern vor allem auf den Finanzmärkten eine starke Deregulierung. Die resultierende Ungleichheit in Ländern wie den USA und Großbritannien hat politische Kräfte gegen die freie Marktwirtschaft mobilisiert. Ich erwarte, dass der Staat sich daher wieder stärker aufdrängen wird. Marktkräften wird etwa mit Protektionismus begegnet.

STANDARD: Einige Marktbefürworter meinen, dass die letzten Krisen stark von der Verzahnung von Politik und Wirtschaftseliten geprägt waren und freie Marktkräfte übergangen wurden – Stichwort Moral Hazard. Daher der Vorschlag, verstärkt auf freien Wettbewerb zu setzen. Ist da etwas dran?

De Grauwe: Mich erinnert das an marxistische Hardliner. Die haben auch immer gesagt, dass der Kommunismus in China nie wirklich ausprobiert wurde, und hätte man den Lehren von Marx doch eine Chance gegeben, wäre alles gutgegangen. Jetzt sagen manche Typen, hätten wir doch nur Märkte in ihrer Reinform gehabt. Aber das ist blanker Unsinn.

STANDARD: Inwiefern?

De Grauwe: Bei Märkten geht es nur um Angebot und Nachfrage. Sie kümmern sich nicht um Ungleichheit. Wenn ein armer Mensch sich nichts leisten kann und daher nichts nachfragt, gibt es trotzdem ein Marktgleichgewicht. Hier muss der Staat für Umverteilung sorgen. Darum gibt es nirgendwo eine pure Marktwirtschaft, genauso wenig wie es den puren Marxismus je gegeben hat.

STANDARD: Österreich hat einen der am stärksten ausgebauten Sozialstaaten der Welt. Derzeit ist Wahlkampfthema, ob die Abgabenquote zu hoch ist. Ist das eigentlich ein gutes Maß in der "Staat vs. Markt"-Debatte?

De Grauwe: Nein. In Dänemark oder in Schweden ist die Abgabenquote noch höher, diese Länder funktionieren aber auch gut. Natürlich wäre eine Abgabenquote von 100 Prozent keine gute Idee, das ist Kommunismus. Es kommt darauf an, wie effizient ein Staat seine Aufgaben wahrnimmt. Eine Gesellschaft mit einem gut ausgebauten sozialen Sicherheitsnetz, das gleichzeitig Anreize schafft, tatsächlich arbeiten zu gehen, kann viel dafür ausgeben.

STANDARD: Wo braucht es den Staat noch?

De Grauwe: Ein zweiter Bereich ist der Umweltschutz. Der Markt ist nicht gut darin, externe Kosten den Verursachern zu verrechnen. Firmen, die verpesten, werden vom Markt nicht zurückgepfiffen. Wir sehen das derzeit vor allem in China und Indien. Die hohe Umweltverschmutzung wird zu politischem Widerstand führen, um die Märkte einzubremsen.

STANDARD: Sie leben als Belgier in London. Ist der Brexit eine Reaktion auf freie Märkte?

De Grauwe: Indirekt schon. Die Marktwirtschaft hat dank der Globalisierung zwar viele Gewinner hervorgebracht, vor allem in Asien, aber auch Verlierer im Westen. Uns ist es nicht gelungen, diese Verluste zu kompensieren. Im Gegenteil, soziale Systeme wurden abgebaut, und das Steuersystem wurde weniger progressiv, just als wir diese Mechanismen hätten stärken müssen. Die politische Gegenreaktion richtet sich sowohl gegen Marktkräfte als auch gegen den Staat.

STANDARD: Führt die Ablehnung freier Märkte zu mehr Nationalismus?

De Grauwe: Das muss nicht so sein. Derzeit sind die Sozial- und Bildungssysteme ohnehin Sache der Nationalstaaten. Wenn Regierungen diese wieder stärken, kann der gemeinsame Markt in der EU seinen Zweck erfüllen und Wohlstand schaffen.

STANDARD: Sie sehen den Brexit aber auch als Chance?

De Grauwe: Für die EU. Die Briten haben immer das Vetorecht für einzelne Mitglieder verteidigt. Jetzt kann die Union sich schneller weiterentwickeln.

STANDARD: In welche Richtung?

De Grauwe: Zum Beispiel beim Steuersystem. Das lässt sich aktuell nur einstimmig ändern. Manche EU-Länder locken mit Steuervorteilen internationale Konzerne an, das geht auf Kosten anderer Mitglieder. Das müssen wir abschaffen. Insofern war der Brexit gut für uns in der EU.

STANDARD: Wird das Pendel zu stark Richtung Staat schwingen?

De Grauwe: Wir brauchen einen funktionierenden Mix: Der Markt ist sehr gut darin, Kapital und Arbeitskraft effizient zu organisieren, um Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Der Staat muss auf öffentliche Güter achten. Wenn wir das Umweltproblem und die Ungleichheit aber nicht bald unter Kontrolle bekommen, zerstören wir die Marktwirtschaft. (Leopold Stefan, 12.9.2017)