Wien – Der Begriff Kidnapping entstand erst im 20. Jahrhundert und bezog sich ursprünglich auf das Verbrechen, ein fremdes Kind zu entführen, um damit Lösegeld zu erpressen. Im Falle der Familie A. ist das anders – die Zweijährige, mit der das Paar im Juni aus Österreich verschwand, ist dessen eigene Tochter. Die wurde aber vom Jugendamt vorübergehend bei einer Pflegemutter untergebracht. Deshalb drohen den A.s nun wegen Kindesentführung bis zu drei Jahre Haft, welche die Richterin Mariella Noe über sie verhängen kann.

"Sie werden sich wenig überraschend schuldig bekennen", kündigt Verteidiger Klaus Ainedter in seinen Eröffnungsworten an. "Aber es stellt sich die Frage nach der Schwere der Schuld. Ich habe ein klares Ziel – eine diversionelle Erledigung." Denn man müsse den Hintergrund beachten: Das Jugendamt habe völlig überzogen eine vorläufige Kindesabnahme beantragt und vom Bezirksgericht genehmigt bekommen, führt der Jurist aus, ohne auf die Hintergründe einzugehen.

Erstes Wiedersehen nach einem Monat

"Ja, ich bekenne mich schuldig. Es tut mir leid, was passiert ist", erfüllt die 37-jährige Erstangeklagte Ainedters Prophezeiung. Sie habe ihre Tochter am 20. Juni zum ersten Mal seit einem Monat wiedergesehen, als sie von der Pflegemutter zu einem Besuchstermin beim Jugendamt begleitet wurde. "Das Kind war auch emotional, ich habe sie aus dem Wagerl in den Arm genommen. Die Pflegemutter hat kein gutes Verhalten gezeigt, das Kind hat Angst gehabt und geweint. Da bin ich weggegangen." Illegalerweise mit dem Kind.

"Was haben Sie dann gemacht?", will Noe wissen. "Ich bin zu einer Freundin gefahren." Ihren Mann ließ sie so wie die Pflegemutter auf der Straße stehen, der Zweitangeklagte erreichte sie erst eine halbe Stunde später telefonisch. Man übernachtete bei der Freundin und schmiedete einen Plan.

Angst vor dem Jugendamt

"Wir wollten nach Bukarest fahren, mein Mann hat dort einen Freund", erzählt die Erstangeklagte. "Was haben Sie denn davon, in Rumänien zu sein?", wundert sich die Richterin. "Wir wollten einfach Urlaub machen. Ein paar Tage Ruhe vor der ganzen Situation haben." – "Und warum haben Sie sich nicht beim Jugendamt gemeldet?" – "Wir haben Angst vor dem Jugendamt. Sie haben mir gesagt, wenn ich je ein persisches Wort mit dem Kind rede, darf ich es nicht mehr sehen", behauptet die Iranerin in passablem Deutsch.

Der Plan scheiterte am 22. Juni in Ungarn, wo sie an der Grenze zu Rumänien festgenommen, nach sechs Tagen nach Wien überstellt und hier freigelassen wurde.

Der Zweitangeklagte, der im Iran ein Archäologiestudium absolviert hat und in Wien in der Gastronomie arbeitet, bestätigt die Geschichte seiner Gattin. Auch er sei von ihrer Handlung überrascht worden, hielt eine gemeinsame Zeit mit der Tochter aber für eine gute Idee. Man habe aber nach einer Woche wieder zurückkommen wollen, beteuert der 40-Jährige.

Den Zweitangeklagten gewarnt

Die zuständige Beamtin des Jugendamts hat die Entführung selbst nicht gesehen, berichtet aber, etwa eine Viertelstunde nach dem Vorfall mit dem Zweitangeklagten telefoniert zu haben. Dabei habe sie ihn auch auf die Strafbarkeit hingewiesen. Dass sie der Kindesmutter verboten habe, Persisch zu sprechen, bestreitet sie. "Wir haben darum gebeten, dass sie Deutsch sprechen soll, damit wir sie verstehen." – "Haben Sie nur darum gebeten, oder haben Sie mit Sanktionen gedroht?", bohrt der Verteidiger nach. "Ich habe sicher gebeten", lautet die Antwort, was ihre Kollegin gemacht hat, kann die Zeugin nicht mehr sagen.

Die Pflegemutter sagt als Zeugin, sie sei perplex gewesen, als Frau A. das Kind vor dem Jugendamt aus dem Wagerl genommen habe. "Ich habe protestiert und drängte auf die Einhaltung der Vorschriften", berichtet die Sportfunktionärin. Geschrien habe sie aber nicht. Sie kann sich noch erinnern, dass die leibliche Mutter "Geh weg, sie hat Angst" gesagt habe und der Zweitangeklagte "Sie hält es nicht mehr aus".

Verständnis, aber schwere Schuld

Sein Ziel einer Diversion erreicht Ainedter schließlich nicht, Noe verurteilt das unbescholtene Paar nicht rechtskräftig zu drei Monaten bedingt. "Sie wussten beide, dass Sie das nicht dürfen", begründet sie das Urteil. "Ich habe Verständnis, dass es eine emotionale Situation gewesen ist, wenn Sie Ihre Tochter nach einem Monat zum ersten Mal wiedergesehen haben. Aber dennoch ist eine schwere Schuld gegeben. Es war vielleicht zunächst eine Kurzschlussreaktion, aber dann haben Sie darüber geschlafen und sind dann noch dazu ins Ausland gefahren. Man kann auch in Österreich ein paar Tage zur Ruhe kommen", wirbt die Richterin noch für den Binnentourismus. (Michael Möseneder, 25.9.2017)