Jean-Claude Juncker ging rhetorisch auf Zehenspitzen, als er in seiner großen Rede zur Zukunft der EU das heikle Thema Flüchtlingsquoten ansprach: Rechtsstaatlichkeit, formulierte der EU-Kommissionspräsident, sei in der EU "keine Option, sondern eine Pflicht". Dass er damit konkret Ungarn meinte, dessen Regierungschef Viktor Orbán sich schlicht weigert, ein entsprechendes EuGH-Urteil bezüglich der Verteilung von Flüchtlingen in der Union umzusetzen, sagte er nicht. Das sagte bisher auch sonst niemand an der EU-Spitze.

Also blieb es wieder einmal an Angela Merkel hängen, deutlich zu werden: Im Interview mit der Berliner Zeitung haute die deutsche Kanzlerin gewaltig auf den Tisch. Dass ein EU-Mitgliedsland den Richtspruch des Europäischen Höchstgerichts ignoriere, sei "nicht zu akzeptieren", sagte sie. Mehr noch: Merkel ließ sogar den Verbleib des Landes in der EU offen.

Schon als sich im Sommer 2015 eine riesige Schar an Menschen aus Syrien gen Europa aufmachte, impfte Merkel als Einzige ihre eigenen Landsleute mit ihrem (später viel gescholtenen) "Wir schaffen das" in Sachen Mitmenschlichkeit und soziale Verantwortung. Auch heute ist Deutschlands Kanzlerin bis dato die Einzige, die ihre Kollegen in Europa vehement an die gemeinsamen Grundsätze erinnert.

Außer Merkel schweigen alle

In Anlehnung an Österreichs legendäre Herrscherin Maria Theresia ist man wie einst König Friedrich II. von Preußen versucht, machomäßig zu spötteln: "Einmal hat die EU einen Mann, und dann ist es eine Frau." Das ist natürlich empörend unfeministisch, bildet aber leider die herrschenden Verhältnisse ab: Ungarn missachtet offen europäisches Recht, und was tun die anderen Staats- und Regierungschefs plus EU-Spitze? Außer Merkel nur schweigen.

Nun kann man Merkels Drohung gen Budapest für realitätsferne Wahlkampfrhetorik halten, weil es über einen Ausschluss Ungarns kaum Einigkeit geben werde. Aber immerhin macht die deutsche Kanzlerin klar, dass die ungarische Ignoranz in Flüchtlingsfragen mehr ist als nur schlechtes Benehmen. Hier geht es um den inneren Zusammenhalt Europas. Dem Höchstgericht Respekt und Anerkennung zu verweigern darf nicht ohne Folgen bleiben. Hier geht es auch um die Vorbildwirkung für andere politische Solotänzer innerhalb des EU-Ensembles. Etwa Österreichs Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) und ÖVP-Spitzenkandidat Außenminister Sebastian Kurz: Im STANDARD-Interview waren die beiden sehr einig, dass man Flüchtlingsquoten eigentlich bleiben lassen könne, weil sie eh nicht funktionieren. Dass dies auch deshalb so ist, weil den meisten Politikern das innenpolitische Hemd näher ist als der europäische Rock, sagten sie nicht dazu.

Am Dienstag erst hat sich der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei Kollege Milos Zeman in Prag eine Abfuhr eingehandelt, als er höflich darauf hinwies, dass auch Tschechien verpflichtet sei, Flüchtlinge aufzunehmen.

Ohnehin kann man einwenden, dass Merkels Kritik viel zu kurz greift. Wie Ungarns und vor allem auch Polens Regierung die jeweiligen Höchstgerichte an die politische Kandare genommen haben, widerspricht allen Grundsätzen, die einzuhalten ein EU-Mitgliedsland je gelobt hat. Wenigstens die deutsche Kanzlerin hat nun deutlich auf die Stopptaste gedrückt. Es ist hoch an der Zeit, dass andere, auch Juncker, ihr folgen. (Petra Stuiber, 13.9.2017)