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Am 14. Juni sind mindestens 80 Menschen bei dem Großbrand im Grenfell Tower gestorben.

Foto: AP Photo/Matt Dunham, File

Diebstähle untersucht die Londoner Polizei selten genau. Ein Delikt, das im Stadtbezirk Kensington gemeldet worden ist, beschäftigt aber die Kripo intensiv – des Tatorts wegen: Ausgerechnet aus einer Wohnung des teilweise ausgebrannten Grenfell Tower sei "eine gewisse Geldsumme" verschwunden, gab die Behörde bekannt. Eine "groteske Straftat", wie der Labour-Abgeordnete David Lammy sogleich empört kommentierte, um darauf zu fragen: "Wie gut ist der Tatort gesichert?"

Ermittler bis Jahresende vor Ort

Eigentlich gar nicht schlecht, so jedenfalls der Augenschein: Eine hohe Metallmauer umgibt inzwischen den schwarz in den Himmel ragenden, kilometerweit sichtbaren Wohnblock. Darin sind im Flammeninferno vor drei Monaten mindestens 80 Menschen gestorben. Noch bis Jahresende bleiben die Brandermittler vor Ort, noch immer werden sterbliche Überreste aus dem Massengrab – die Anwohner nennen es "das Krematorium" – geborgen.

Man könne sich kaum vorstellen, welche Bilder die Überlebenden des Tower-Brands und die Anwohner aus jener Juninacht mit sich herumtrügen, sagt der anglikanische Ortspfarrer Alan Everett. "Die Leute schlagen sich mit Erinnerungen herum, die sie nicht vergessen können. Das ist eine tiefsitzende Beschädigung." Die Anwältin Victoria Vasey vom kostenlosen Rechtsberatungszentrum NKLC weiß von früheren Bewohnern, die bis heute übergangsweise in Hotelzimmern hausen und diese nicht verlassen, "so traumatisiert sind sie".

Vorschläge an Regierung

Dass am Donnerstag eine öffentliche Untersuchung der Ereignisse vom 14. Juni und deren Vorgeschichte begonnen hat, hält Vasey deshalb – wie viele Betroffene und professionelle Beobachter – für verfrüht. Überstürzt hatte Premierministerin Theresa May die unabhängige Prüfung angeordnet und als deren Leiter Martin Moore-Bick eingesetzt.

In einem Londoner Konferenzzentrum erläutert der 70-jährige pensionierte Richter am Appellationsgericht zum Auftakt seine Mission: Es solle geklärt werden, was genau zu dem katastrophalen Brand führte und warum so viele Menschen sterben mussten, und der Regierung sollten rasch Vorschläge gemacht werden, wie ähnliche Infernos verhindert werden können.

Offenheit gegenüber Opfern

Moore-Bick wiederholt in gesetzten Worten, was er den traumatisierten Anwohnern bei seinen ersten Begegnungen offen verkündete: "Ich kann Ihnen nicht das geben, was Sie wollen." Was sich viele Grenfell-Opfer wünschen, ist zuallererst eine gerechte Bestrafung der Täter, Anklagen wegen Totschlags oder wenigstens wegen fahrlässiger Tötung.

Aber gegen wen? Den mittlerweile zurückgetretenen Leiter des seit Jahrzehnten konservativ regierten Bezirks Kensington? Den Direktor der quasiprivaten Wohnungsverwaltung, mit der sich die Bezirksregierung das Problem der Sozialwohnungen vom Hals zu halten versuchte? Die Handwerker, welche die Verkleidung aus Polyäthylen und Aluminium so einbauten, dass der Brand eines Kühlschranks im vierten Stock rasend schnell das Gebäude in Flammen hüllen konnte? Oder die Inspektoren, die den Pfusch erst vor Jahresfrist abnahmen?

Möglicherweise keine Verurteilungen

Es werde am Ende zu keinen Verurteilungen kommen, prophezeit der langjährige BBC-Rechtsexperte Joshua Rozenberg und sorgt damit für lange Gesichter bei einer Veranstaltung des unabhängigen Thinktanks IFG. Die Möglichkeit will Opferanwältin Vasey nicht ausschließen, aber: "Das ist noch lange kein Grund, die Ermittlungen der Kripo einzustellen." Nicht zuletzt, da sind sich die Fachleute einig, hätte dies einen verheerenden Effekt auf die ohnehin heiklen, von tiefer Verbitterung geprägten Beziehungen zwischen den Grenfell-Opfern und den staatlichen Behörden.

Jahrelang hatten die Bewohner des Wohnturms auf Baumängel hingewiesen, das Fehlen von Sprinklern beklagt – mit denen nur zwei Prozent aller Sozialwohnungsblocks in England ausgerüstet sind –, den Mangel an Fluchtwegen angeprangert. Aber es geschah nichts.

Unterdessen werden sowohl in Kensington wie in anderen sogenannten "Alphavierteln" der Hauptstadt immer neue Luxuswohnblöcke hochgezogen: Kapitalanlagen für Investoren aus Russland, dem Nahen Osten und China sowie einige Briten. Ganze Wohngebiete hätten sich "im letzten Jahrzehnt bis zur Unkenntlichkeit verändert", berichtet Architekturprofessorin Anna Minton von der Uni Ost-London. (Sebastian Borger, 14.9.2017)