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Kurz vor der Verhaftung im Mai: Hungerstreiker Özakça (li.) und Gülmen.

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Ankara/Athen – "Märtyrerbilder" wollte die Regierung am Ende wohl nicht haben. Die am Donnerstag seit 190 Tagen hungernden Lehrer Nuriye Gülmen und Semih Özakça durften nicht zum Beginn ihrer Verhandlung vor einer Gerichtskammer für schwere Straftaten in Ankara erscheinen. Aus "Gesundheitsgründen" und wegen der Sicherheit hieß es offiziell. Beide Angeklagten liegen in einem Spital im Gefängnis von Sincar, unweit der türkischen Hauptstadt.

Ihren Hungerstreik begannen sie im März dieses Jahres aus Protest wegen ihrer Entlassung aus dem Staatsdienst. Als Gülmen und Özakça immer größere Aufmerksamkeit in Teilen der Gesellschaft fanden, wurden sie unter dem Vorwurf des Terrorismus in Untersuchungshaft genommen.

200 Anwälte kamen aus Solidarität

Vor dem Justizpalast in Ankara trieben Polizisten am Donnerstag mehrere hundert Unterstützer der beiden Lehrer auseinander. Im Gebäude selbst wurden Besucher, die den Prozessbeginn verfolgen wollten, vor dem Gerichtssaal über die Treppen zum Ausgang hinuntergedrängt. Der Gerichtssaal soll laut Berichten von Augenzeugen viel zu klein für den Andrang gewesen sein. Eine stattliche Zahl von 200 Anwälten soll gleichwohl den ersten Verhandlungstag verfolgt haben. Mehr als 1.000 Anwälte erklärten sich mittlerweile bereit, die beiden Lehrer zu verteidigen. Die Staatsanwaltschaft hatte am Dienstag Gülmens und Özakças Anwälte aus dem linksstehenden "Rechtsbüro des Volkes" festnehmen lassen. Das hat die Unterstützung für die beiden Lehrer offenbar nur wachsen lassen.

20 Jahre Haft

Die Anklageschrift geht auf die Entlassung der Literatur-Dozentin Gülmen und des Grundschullehrers Özakça nicht ein. Beide verloren ihre Anstellung im Zuge der Notstandsdekrete, mit denen Staatschef Tayyip Erdogan und seine Regierung seit dem Putsch im vergangenen Jahr den Beamtenapparat "säubern". In einer Parlamentsdebatte Ende Mai bestritt Innenminister Süleyman Soylu unter dem Gelächter der Opposition, dass Gülmen als angebliche Anhängerin des Predigers Fethullah Gülen ihre Arbeit verloren hatte. Gülmen und Özakça seien seit 2012 Mitglieder der linken Terrorgruppe DHKP-C, behauptete Soylu. Die Staatsanwaltschaft beantragte 20 Jahre Haft für jeden der Angeklagten.

Gülmen konnte bei ihrer Verhaftung im Mai bereits nicht mehr allein gehen. Özakça soll mittlerweile Probleme mit dem Sehen haben. Beide nehmen neben Wasser auch Zucker und Vitamine zu sich. Das erklärt, dass sie ihren Hungerstreik über so lange Zeit bisher überlebt haben.

Kurdische Begräbnisfeier angegriffen

Der Überfall eines nationalistisch gesonnenen Mobs auf eine Begräbnisfeier für die Mutter einer kurdischen Politikerin in Ankara beschäftigte am Donnerstag zudem die Türkei. Regierung und Präsidentensprecher verurteilten den Vorfall. Der Leichnam der am Dienstag verstorbenen Mutter der Vizechefin der prokurdischen HDP, Ayse Tugluk, wurde nun nach Tunceli überführt. Die inhaftierte Tugluk hatte für das Begräbnis Ausgang erhalten. "Wir verlieren unsere Menschlichkeit", sagte der Chef der sozialdemokratischen Opposition, Kemal Kiliçdaroglu. Er machte die politische Führung für das Klima im Land verantwortlich, das solche Angriffe zulasse. (Markus Bernath, 14.9.2017)