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Die Rolling Stones 2017. Das in die Jahre gekommene Sinnbild von Ausschweifung ist selbst nach bürgerlichen Wertvorstellungen höchst erfolgreich.
Foto: AP Photo/Markus Schreiber

Pro: Karl Fluch

Es geht immer noch um den alten Traum von Freiheit. Sich einmal all seiner Fesseln entledigen und tun und lassen können, was man will. Geld zu haben, heißt es, helfe dabei, deshalb sammelt einer wie Mick Jagger es seit seiner Jugend leidenschaftlich. Am Samstag bittet er im steirischen Spielberg zur Kollekte. Soll sein, man kriegt ja etwas dafür. Musik und, je nach Aufnahmebereitschaft, auch eine Lektion. Denn Jagger und seine Waffenbrüder von den Rolling Stones hebeln noch immer gesellschaftliche Erwartungen aus.

Entsetzten sie als junge Wilde das Kleinbürgertum mit Huldigungen an die Dreifaltigkeit des Bösen (Sex, Drogen, Drogen, Drogen, Rock ’n’ Roll), so terminieren sie heute überkommene Erwartungen an die Popkultur als Jugendkultur sowie das Ideal eines geruhsamen Lebensabends. Damit sind sie nicht allein. Jede Menge Stars im pensionsberechtigten Alter tun dasselbe, doch kaum jemand ist so lange dabei wie die Stones.

Seit 55 Jahren personifizieren Jagger und Keith Richards das Klischee von Ausschweifung und Regelbruch, von Freiheit. Dabei ist ein Soundtrack abgefallen, der zum Weltkulturerbe zählt und für mittlerweile drei Generationen Gültigkeit besitzt. Und die kommen alle gelaufen, um Jaggers Balzgesängen zu lauschen und Richards als Vollzugsgehilfen an der Gitarre zu erleben. Das ist das Tolle an der Niederschwelligkeit der Populärkultur, dass Neue und Junge dazukommen und andocken können, ohne vorher zehn Semester Satanismus und Vielweiberei studieren zu müssen. Wobei ...

Klar sind die Stones alte Säcke und Richards bloß ein vielfaltiger Gitarrist, aber was ist denn die Alternative? Früh sterben. Wer will das schon? Die Stones und ihr deppertes Logo sind zwar längst unsterblich, doch bevor sie die Endlichkeit ereilt, die uns allen irgendwann die Luft nimmt, kann man mit ihnen ruhig noch einmal das Leben und die Leber feiern. Wer dabei den Alltag vergisst, wird sich wenigstens für kurze Zeit frei fühlen. Was gibt’s Schöneres? Im Gegenzug kann man sich bei den Freudenspendern großzügig zeigen. Nicht nur an der Kasse. Auch wenn sie dieses eine Lied spielen. Erschien Jaggers Ruf "I can’t get no satisfaction" früher kokett, so dürfte ihm heute doch ein Tröpfchen Wahrheit innewohnen.

Kontra: Christian Schachinger

Die Stänkerer stehen bei Konzerten immer hinten. Bei den Rolling Stones in Spielberg kostet die billigste Karte 99,90 Euro, die teuerste ganz vorn, mit der Möglichkeit, einen Teddybären, einen Blumenstrauß oder ein Unterhöschen zu werfen, 494,90 Euro. Die These, dass ein Konzert besser gefällt, je tiefer man dafür in die Tasche greifen muss, ist berechtigt. Vorn hui, hinten pfui.

Kenner eines Open-Air-Konzerts der Rolling Stones auf einem flachen Feld mit Autobahnanbindung wie etwa desjenigen, das die Band 1998 in Wiener Neustadt gab, wissen, dass man das Konzert hinten nur sieht, wenn man dazu bereit ist, gemeinsam mit abertausenden anderen Leuten öffentlich über die Großbildschirme fernzusehen. Das hat zwar mit dem vielbeschworenen Rock ’n’ Roll ungefähr so viel zu tun wie Keith Richards mit würdevollem Altern. Dafür war man aber dabei und ist davor und danach einen halben Tag mit dem Auto im Stau gestanden. Sonderzüge, Shuttlebusse? Pah, nur für Verlierer.

Mick Jagger (viril!), Keith Richards (lustig betrunken!), Ron Wood (mit seinen 70 Jahren das Bandküken!) und Charlie Watts (cool, stoisch, ein Sir!) sind also wieder einmal auf Tour. Und allen wird es gefallen. Weil ein Konzert, das so viel an Geld, Lebenszeit und Energie kostet, gut sein muss. Die Rolling Stones als "dienstälteste" und "härteste Rockband der Welt" wurden ungefähr 1981 ab dem Album Tattoo You und dem Hit Start Me Up kreativ weitgehend stillgelegt. Start Me Up schaffte es übrigens schon 1971 nicht auf das Album Sticky Fingers, so viel zur künstlerischen Qualität. Als Werbesong für Microsoft brachte er dann 1995 Dollarmillionen ein. Wer an die "größte Rockband aller Zeiten" denkt, muss immer auch in Zahlen denken. It’s the economy, stupid. Nur fünf neue Alben haben die Stones in den letzten 30 Jahren veröffentlicht, dafür ein Maximum herausgeholt. Das letzte von 2016 bestand aus Blueshadern. Niemand kauft das, sie spielen es mit ein, zwei Ausnahmen nicht live. Es reicht aber, um auf Tour zu gehen. Angst vor der Altersarmut ist etwas Schreckliches.

Üben muss dafür niemand. Seit mindestens 30 Jahren werden immer dieselben Lieder runtergerockt. Man kennt ihre Namen, man kann sie mitsingen. Ausnahmen gelten bei 100 Euro Eintritt als Sensation. Die Zeit ist auf ihrer Seite.