Sy Montgomery, "Rendezvous mit einem Oktopus", übersetzt von Heide Sommer. € 28,80 / 336 S., Mare, Hamburg 2017.

Illustr.: Mare
Ein Pazifischer Riesenkrake kann im ausgewachsenen Zustand mit seinen langen Armen ein kleines Auto umfassen. Aus der Färbung der Tiere lässt sich auch ihre Stimmung ablesen.
Foto: Bachrach44

Wien – Dass Oktopoden ziemlich kluge Tiere sind, hat sich spätestens 2010 als populärkulturelles Faktum etabliert: Der Krake Paul sagte anlässlich der Fußballweltmeisterschaft den Ausgang von nicht weniger als sieben Spielen der deutschen Nationalmannschaft sowie den des Finales korrekt voraus und war damit besser als die meisten menschlichen Experten.

Wie das dem Achtfüßer gelang, ist bis heute umstritten. Immerhin hatte das Krakenorakel zur Folge, dass man sich damit auch wissenschaftlich beschäftigte. Der deutsche Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem etwa hielt einen Vortrag über "Die Krake Paul oder: Wissenschaft als Nichtwissen-Schaft". Worauf der Pianist Alfred Brendel, damals Fellow des Institute for Advanced Studies in Berlin, mit einem Text über die Fingerfertigkeit der Oktopoden reagierte.

Eintauchen in eine fremde Lebenswelt

Bei der US-amerikanische Naturforscherin und Sachbuchautorin Sy Montgomery war es eine TV-Dokumentation, die ihr Interesse an den intelligenten Weichtieren weckte.

Emwiz Media

Ohne einschlägige Vorkenntnisse begab sie sich ins New England Aquarium in Boston und nahm dort Kontakt mit dem größten Vertreter der Gattung auf: einem Pazifischen Riesenkraken – und tauchte zugleich in eine völlig fremde Welt ein.

"Ich wollte einen Oktopus kennenlernen", schreibt sie einleitend über ihre Motivation: "Ich wollte so eine alternative Lebenswirklichkeit berühren. Ich wollte eine andere Art von Bewusstsein erkunden, wenn es das überhaupt gab. Wie fühlte es sich an, ein Oktopus zu sein?"

Einfühlsame Berührungen

Ihre erstes "Rendezvous mit einem Oktopus" wird gleich handgreiflich: Athena, ein etwa 20 Kilogramm schweres Weibchen, betastet und schmeckt mit seinen Saugnäpfen die Arme der Autorin, die umgekehrt das Tier am Kopf berühren darf, dessen Haut sich "seidig und geschmeidig wie Vanillesoße" anfühlt.

Berührende Interaktion mit einem Pazifischen Riesenkraken im New England Aquarium in Boston.
New England Aquarium

Nach dieser einfühlsam geschilderten Begegnung ist Montgomery den Tieren mit den acht Armen, 1600 Saugnäpfen, drei Herzen, einem Schnabel und einem über den beweglichen Körper verteilten Gehirn verfallen.

Leidenschaftliche Recherchen

Fortan besucht sie nicht nur Athena und ihre Nachfolgerinnen Octavia, Kali und Karma regelmäßig im Aquarium in Boston, um etwa festzustellen, wie unterschiedlich die Persönlichkeiten von Riesenkraken sein können, die bis zu 75 Kilogramm schwer werden können, aber nach einer extrem schnellen Wachstumsphase auch schon nach etwa vier Jahren sterben.

Um noch mehr über Oktopoden herauszufinden, bereist Montgomery die halbe Welt, beginnt mit dem Tauchen und nimmt die Leser dabei auf etliche kenntnisreiche Exkurse und faszinierende Exkursionen mit: hinter die Kulissen von Großaquarien ebenso wie in die Weltmeere, vor allem aber in die für uns so unbegreifliche Erfahrungswelt der intelligenten Weichtiere, die lernen können, gerne spielen und wahre Meister des Tarnens und Täuschens sind. (Ihre Haut, die sich perfekt an jede Umgebung anpassen kann, ist vermutlich die komplexeste des gesamten Tierreichs.)

Ist eine Kommunikation zwischen Zweibeinern und Achtfüßern (hier im Aquarium von Seattle) möglich?
Foto: Laszlo Ilyes

Beweise für eine "Beziehung"

Evolutionär hat sich die Entwicklungslinie von Oktopus und Mensch zwar vor unvorstellbaren 500 Millionen Jahren getrennt. Dass dennoch eine Art von "Beziehung" zwischen Zweibeinern und Achtfüßern möglich ist, legt dann der Schluss des wunderbaren fast schon mit einer Überdosis Empathie geschriebenen Tierbuchs noch einmal eindrücklich nahe.

Sy Montgomery liest im Aquarium in Boston aus der englischen Originalfassung ihres Buchs "The Soul of an Octopus".
New England Aquarium

Da schildert Montgomery nämlich abermals eine berührende Begegnung, diesmal ist es aber ein Abschied: Die alt gewordene Riesenkraken-Dame Octavia taucht kurz vor ihrem Tod auf, um Montgomery und ihre Pfleger ein letztes Mal mit ihren Armen zu umfassen. (tasch, 20.9.2017)