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Emanuela Orlandis Bruder Pietro führte 2011 eine Demo auf dem Petersplatz an und forderte Aufklärung.

Foto: Reuters

Emanuela Orlandi, Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II., war am 22. Juni 1983 wie jeden Mittwoch außerhalb des Kirchenstaats zum Musikunterricht gegangen. Auf dem Rückweg zu ihrem Elternhaus im Vatikan verschwand die 15-Jährige spurlos – und tauchte nie wieder auf. Der Fall Orlandi beschäftigte vatikanische Ermittler und italienische Staatsanwälte jahrzehntelang; um das Schicksal der Schülerin ranken sich wilde Spekulationen und Verschwörungstheorien. Die Justiz hat ihre Ermittlungen erst 2015 eingestellt.

Nun erhalten die Spekulationen durch eine neue Akte aus dem Vatikan, die dem "Corriere della Sera" und "La Repubblica" zugespielt wurde, neue Nahrung. Denn das von den beiden Zeitungen veröffentlichte Dokument lässt nur einen Schluss zu: Emanuela Orlandi ist von Kirchenmännern entführt worden. Das war schon immer die populärste Hypothese: Das Mädchen sei abgepasst worden, um es für Sexspiele in der Kurie zu missbrauchen, an denen insbesondere der skandalumwitterte damalige Chef der Vatikanbank IOR, Kardinal Paul Marcinkus, aber auch ausländische Diplomaten beteiligt gewesen sein sollen. Später sei sie getötet und "entsorgt" worden.

Ausgaben bezüglich Emanuela Orlandi

Das neue, fünf Seiten umfassende Dossier, das an die beiden hohen Kurienkardinäle Giovanni Battista Re und Jean-Louis Tauran adressiert war, trägt den Titel "Summarischer Rechenschaftsbericht über die Ausgaben des Staats der Vatikanstadt für die Aktivitäten bezüglich der Bürgerin Emanuela Orlandi".

Das Dokument datiert vom März 1998, als Verfasser ist Kardinal Lorenzo Antonietti angegeben, der damalige Chef der vatikanischen Güter- und Vermögensverwaltung Apsa. Die erwähnten Ausgaben erstrecken sich über den Zeitraum von 1983 bis 1997 und summieren sich auf beträchtliche 483 Millionen Lire, in heutiger Währung etwa 250.000 Euro.

"Finale Amtshandlungen"

Die einzelnen Ausgabeposten betreffen unter anderem das "Fernhalten von zu Hause", "Raten für Kost und Logis" (in einem Kloster in London) und "gynäkologische Leistungen". Aber auch für "depistaggi" (Irreführung der Ermittlungen) wurde Geld ausgegeben. Besonders makaber ist der letzte Ausgabenposten: "Generelle Aktivitäten und Überführung in den Vatikanstaat mit zugehöriger Abwicklung der finalen Amtshandlungen: 21.000.000 Lire."

Das Problem an der neuen Indiskretion ist: Bei dem Papier könnte es sich auch um eine Fälschung handeln. Tatsächlich hat der vatikanische Pressechef Greg Burke das Dokument umgehend als "gefälscht und lächerlich" bezeichnet – wobei der Vatikan seit Jahren behauptet, nichts vom Verbleib Emanuela Orlandis zu wissen oder entsprechende Dokumente zurückzuhalten.

Fälschung möglich

Dass die Möglichkeit einer Fälschung besteht, wird auch in den beiden Medienberichten betont. Doch auch diese sei aus dem Kirchenstaat gekommen. Und das bedeutet, dass die vatikanischen "Raben", wie die Geheimnisverräter und Saboteure in den italienischen Medien genannt werden, immer noch fliegen und in der von Papst Franziskus geführten Kurie Unruhe stiften wollen.

Ob echt oder ein Fake: Der Fall Orlandi dürfte weiterhin ungelöst bleiben. Lange wurden osteuropäische Geheimdienste oder die türkischen Grauen Wölfe hinter der mutmaßlichen Entführung vermutet: Die Kidnapper von Emanuela Orlandi hätten den inhaftierten Papstattentäter Ali Agca freipressen wollen.

Gemäß einer anderen Theorie wurde das Mädchen von der römischen Mafia, der "Magliana-Bande", entführt, um von der Vatikanbank eine hohe Geldsumme zurückzuerhalten, die der Bandenboss Enrico De Pedis dem IOR zum Waschen übergeben haben soll. Es heißt zudem, der Gangster soll die Entführte auch missbraucht haben. (Dominik Straub aus Rom, 20.9.2017)