Nach der Fahrt von Tulfes aus mit zwei Sesselliften der Glungezerbahn steigen wir von der Tulfeinalm weiter hinauf. Die Wolken hängen tief über dem Bergkamm und der Aufstiegsnebel saftelt uns in den Kragen. Bis zum geografischen Mittelpunkt Tirols läge eine vierstündige Wanderung vor uns, die der ab Nachmittag vorhergesagte Regen unmöglich macht. Da das Land Tirol seinen Mittelpunkt aber ohnehin keiner Markierung für würdig befindet, beschließen wir, unser Landungsritual an die erste dafür visuell passende Location am Weg zu verlegen.

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Hier oben begegnet uns keine Menschenseele; bis auf die mit schrillen Pfiffen grüßenden Murmeltiere scheinen wir die einzigen zu sein, die durch den hochalpinen Dunst stapfen. Kollegin Gschwendtner hält tapfer die Österreichfahne hoch, lässt sie im nasskalten Wind flattern. Nahe dem Gipfelkreuz dann die passende Stelle: eine Felsformation, die sich gegen den weiß-grauen Nebelhimmel abzeichnet. Wir nehmen den Felsen durch eine Fahnenzeremonie in Besitz, der Widerstand der Flechten ist zwecklos. Keine Landnahme ohne Fahne, das hat sich in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt. Kolumbus in Amerika? Der Mensch auf dem Mond? Holt die Fahne raus und rammt diese in den Boden.

Iwo Jima in Tirol

Und also nehmen wir an diesem 11. September 2017 die mit Gaffa-Tape an ein Bambusrohr geklebte österreichische Fahne und stellen auf diesem Hügel in Seemannsmontur irgendwo in den Tiroler Bergen die Ikone aller Flaggenfotos nach: Raising the Flag on Iwo Jima. Am 23. Februar 1945 vom amerikanischen Kriegsfotograf Joe Rosenthal aufgenommen, sind auf jenem Foto sechs Marines zu sehen, die auf dem felsigen Gipfel der kleinen Pazifikinsel Iwo Jima die Stars & Stripes aufstellen.

Rosenthal gelingt es mit dieser Fotografie, die Bewegung des Aufstellens als großen, die Nation bewegenden Augenblick des amerikanischen Triumphes festzuhalten. Einige der flagraisers werden nach Verbreitung des Bilds auf Propagandatour durch die USA geschickt, um erfolgreich für neue Kriegsanleihen zu werben. Die Soldaten kehren aber nicht nur als Kriegshelden heim, sie repräsentieren vor allem den Sieg der freien amerikanischen Gesellschaft über die Barbarei der Diktaturen – und in dieser Gesellschaft ist jeder willkommen, der sich für sie einsetzt: der native american Ira Hayes, der auf dem Foto die Fahne gerade loslässt, damit sie nach oben schnellen kann, oder der von kanadischen Eltern abstammende René Gagnon, der auf dem Bild, fast verdeckt, an dritter Position den Flaggenmast hält.

Re-Enactment des ikonischen Flaggenmoments der amerikanischen Geschichte.
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Unser theatralisches Re-Enactment dieser Mutter aller Schlachtenbilder ist nicht nur ironische Betrachtung von territorialen Landnahmezeremonien und kritischer Verweis auf deren Propagandapotential, es ist auch ein Kommentar auf ein Motiv, das in Melvilles Moby Dick zwischen den Zeilen immer wieder durchschimmert: die Schiffscrew der "Pequod" rekrutiert sich buchstäblich aus aller Herren Länder; das unter amerikanischer Flagge segelnde Schiff heißt damit, in a nutshell, die ganze Welt an Bord willkommen, unabhängig von Hautfarbe, Glaube und kultureller Herkunft.

Was diese Funktionsgemeinschaft allerdings verbindet, ist nicht ein gemeinsamer ethischer Kompass, sondern einfach die Notwendigkeit, ein Auskommen zu finden, Geld zu verdienen, um zu überleben. Dieser Zwang führt am Ende paradoxerweise zur eigenen Vernichtung, weil die Crew dem ins Protoreligiöse gesteigerten Wahn ihres Kapitäns Ahab kein moralisches Gegengewicht zu bieten vermag.

Auch im Krieg spielen heroische Akte bestenfalls als Propagandamaterial eine Rolle. Das gilt gerade so für die Soldaten von Iwo Jima: Drei der sechs Fahnenhisser fallen in den Tagen nach der Fahnenzeremonie, und die anderen drei, jene, die auf Propagandareise durch die USA geschickt werden, zweifeln bis ans Ende ihrer Tage, ob sie zu Helden taugen.

Die Wolpertinger der Tulfeineralm

Nach dieser Aktion im Gipfelnebel tat eine Erwärmung not, also hielten wir Einkehr bei Heidi auf der Tulfeineralm. Zirbenschnaps und Kaspressknödel sorgten bei dem ein und der anderen von uns für glühende Wangen. Während die Wirtin ihre Gäste in Matrosenanzügen schnell ins Herz schloss und uns zum Abschied von ihrem hauseigenen Edelweißbeet persönlich die schönsten Exemplare aushändigte, ließ sich in der Hütte (sprich: Gasthaus) eine Begegnung mit ihren schaurig-lustigen Dauergästen nicht vermeiden: drei Wolpertingern.

Dauergäste auf der Tulfeineralm: drei Wolpertinger
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Den Wolpertinger könnten wir eine kreative Auseinandersetzung mit der Natur nennen. Eine fantasievolle Re-Kombination von Eigenschaften, die die Herren Linné und Darwin wohl vor eine schwierige Aufgabe gestellt hätten. Oder: die Antwort der Folk-Art auf Mary Shelleys "Frankenstein".

Sind diese Monster, die sowohl in der Literatur, wie auch in der kreativen Taxidermie auftauchen, ein Ausdruck für die Angst vor der Rache der Natur? Eine Rache für die Ausbeutung, die Vergewaltigung, die Verfremdung, die wir ihr im Anthropozän angedeihen lassen? – Moby Dick scheint sich für seine gesamte Spezies zu rächen, so wie Frankensteins Monster sich stellvertretend für die Arbeiter im industrialisierten England rächte.

Kreative Taxidermie im Detail
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Vielleicht ist das eine Nummer zu groß für die Wolpertinger auf der Tulfeineralm; denn die gleichen eher Kuscheltieren als Monstren. Aber auch sie schüren den Verdacht, dass die Natur noch immer das Potential hat, sich mit unerwarteten Methoden gegen uns Menschen zu wenden.
Zwar ziehen unsere monotheistischen Religionen eine klare Trennung zwischen dem Mensch und seiner Umwelt – und rechtfertigen so unseren ausbeuterischen Umgang mit den Ressourcen der Natur. Ein Rest pantheistischer Panik, ein Unbehagen oder schlechtes Gewissen dürfte aber noch in uns schlummern.

Um diesem Unbehagen entgegenzutreten, hat man wohl in früheren Zeiten den Göttern Opfer dargebracht. Ein Opfer, das in irgendeiner brauchbaren Größenrelation zu unserem Handeln Mutter Natur gegenüber stehen soll, ist aber schlicht nicht mehr vorstellbar. Das heißt, anstatt zu opfern, müssen wir uns fürchten. Moby Dick, Godzilla, King Kong und, ja, auch die Wolpertinger erfüllen uns daher mit Furcht und Ehrfurcht vor der Natur.

Der Standseilbahnwal

An anderer Stelle eine ganz andere Verbindung von Natur und Kunst: Wer eine Googlesuche nach "Austria + whale" startet, erhält als eines der ersten Bilder die von Zaha Hadid gestalteten Haltestellen der Standseilbahn vom Zentrum Innsbrucks zur Hungerburg. Also fuhren wir mit unserem ganzen Filmequipment auf einer idyllischen, enggewundenen Straße zur Bergstation am Hermann-Buhl-Platz hinauf.

Die Überdachung der Station sieht tatsächlich wie die Schwanzflosse eines Wals in seiner ganzen Pracht aus. Während Zaha Hadid offenbar an Gletscherformationen dachte, sahen wir einen Leviathan, der dem spektakulären Blick auf Innsbruck seinen Rücken zuwendet und dessen Kopf tief im Berg steckt.

Während wir hier drehen, spuckt die Standseilbahn alle paar Minuten Touristen auf den Berg und wir denken unweigerlich an die Geschichte von Jona im Walfisch. Die Touris fotografieren das Innsbruck-Panorama. Manche fahren weiter hinauf aufs Hafelekar, kommen wieder herunter und fotografieren dann das Innsbruck-Panorama. Schließlich verschwinden sie wieder im Walfisch und die Standseilbahn bringt sie zur Talstation beim Kongresshaus.

Zaha Hadids Überdachung der Hungerburgbahn-Bergstation: Eine Walflosse!
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Vorsicht, hier wird (k)eine Werbung gedreht!

Für die meisten, die hier aus- und einsteigen, sehen wir wohl wie ein Filmteam aus, das eine Softdrink-Werbung dreht. Jedenfalls war das die häufigste Assoziation jener, die mit uns ins Gespräch gekommen sind. Das ist es offensichtlich, was man mit Filmteams heute verbindet: sie drehen eine Werbung. Denn irgendwas muss immer irgendwem verkauft werden.

Als wir den Zusehenden erzählten, dass wir kleine Teile aus Moby Dick filmen, fragten manche: "Moby wer?". Andere, die das Buch kannten oder den Film gesehen hatten, nickten wissend und machten mit dem weiter, was Touristen halt so machen. Die Tatsache, dass da ein einbeiniger Schauspieler in einer öffentlichen Bahnstation lautstark einen Wal verfluchte, erachteten sie so normal wie ihr Hotel-Frühstück. So weit sind wir also heute: Die ganze Welt ist ein Filmset und wir alle spielen eine Rolle in einem Werbeclip. (Peter Stamer, Michael Strohmann, Yosi Wanunu, Markus Zett, 21.9.2017)