In meinem letzten Blogbeitrag war die Rede von theologisch motivierten Vergewaltigungen in den Gefängnissen der Islamischen Republik Iran und von der Versklavung weiblicher "Kriegsgefangener" durch die Gotteskrieger des Islamischen Staates. Diese und andere Erscheinungsformen des sogenannten politischen Islam wirken erschreckend unzeitgemäß – als hätte jemand Wesen aus einer barbarischen Vorzeit mittels Zeitmaschine in die Gegenwart verpflanzt – und lösen bei uns den Impuls aus, dies Unzeitgemäße ungeschehen zu machen, indem wir es als zeitgemäß zu imaginieren versuchen.

Lieber als vom Islam sprechen wir daher, wenn etwa von der Islamischen Republik Iran oder von den Gotteskriegern des Islamischen Staates die Rede ist, vom "Islamismus", den wir als moderne, vom traditionellen Islam deutlich abgegrenzte Ideologie aufzufassen versuchen.

Unbeholfenheit von Anfängern

Dieses "Verkleiden des Unzeitgemäßen als zeitgemäß" erinnerte uns im letzen Blogbeitrag an eine berühmte Passage im "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte", in der Marx von revolutionären Subjekten spricht, die sich – umgekehrt – als Gestalten der Vergangenheit verkleiden: Von den Teilnehmern an der Französischen Revolution, die sich als Bürger der altrömischen Republik "drapiert", von Napoleon, der sich als römischer Kaiser imaginiert, von Luther, der sich als Apostel Paulus "maskiert" und Cromwell, Führer der englischen Revolution, der sich mit den Propheten des Alten Testaments identifiziert hatte.¹

Napoleon I. mit goldenem Lorbeerkranz, gemalt von François Gérard.
Foto: EPA

"Die Tradition aller toten Geschlechter", fährt Marx fort, "lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen [...], gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf."²

Diese seltsame Regression in die Vergangenheit, in Zeiten, in denen die Gesellschaft sich anschickt, eben diese Vergangenheit zu überwinden, sollte uns zu denken geben. Marx selbst scheint sie als eine unerwünschte Nebenwirkung von revolutionären und emanzipatorischen Anstrengungen zu betrachten, eben als eine Art Regression. Oder als Ausdruck einer – zu  überwindenden – Unbeholfenheit von Anfängern.

"So übersetzt der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache."³

Könnte es aber sein, dass diese Regression in Zeiten der (vermeintlichen oder tatsächlichen) "Progression", nicht bloß eine unerwünschte Nebenwirkung darstellt – sondern mitunter eine wesentliche, möglicherweise "positive" Voraussetzung revolutionärer und emanzipatorischer Bewegungen?

Der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge entwickelt in einem Video-Interview mit dem Wochenmagazin "Der Freitag"⁴ einen simplen, für unseren Zusammenhang aber fruchtbaren Gedanken. Von den drei Kategorien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stünde uns, bei genauer Betrachtung, nur die Vergangenheit zur Verfügung. Die Zukunft sei bloß als Möglichkeit denkbar, die Gegenwart ein unendlich kurzer zwischen der Vergangenheit und der Zukunft verrinnender Moment – bliebe also nur die Vergangenheit.

Tatsächlich können wir uns ein planvolles, in die Zukunft gerichtetes Tun – ob bei der Planung einer Urlaubsreise oder der Gründung eines Unternehmens – ohne Rückgriff auf die Erfahrungen der Vergangenheit kaum vorstellen. Und so betrachtet, erscheint uns die von Marx beschriebene Regression der Revolutionäre, ihr Rückgriff auf die Vergangenheit, nicht mehr geheimnisvoll – sondern trivial. Allerdings scheinen jene Regressionen den Revolutionären eher passiert zu seien, als dass sie diese rational und planvoll herbeigeführt hätten – etwa so wie dem Träumenden ein Traum widerfährt.

Regression und Traum

In Sigmund Freuds Theorie des Traums kommt dem Begriff "Regression" eine für unseren Zusammenhang interessante Funktion zu. Unter Regression verstehen wir in der Regel – und dieses "wir" schließt auch die meisten Psychoanalytiker ein – einen Rückschritt zu einer früheren, bereits überwundenen Entwicklungsstufe. Ursprünglich meint Regression bei Freud aber etwas anderes. In der "Traumdeutung", einem Schlüsseltext der Psychoanalyse, geht Freud davon aus, dass Erregungen den "psychischen Apparat" normalerweise in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen und er fasst daher jeden psychischen Vorgang als einen gerichteten auf.

Ein – schematisch vereinfachtes – Beispiel: Ich sehe in einer Vitrine ein Stück Torte. Der Anblick der Torte bedeutet in der Sprache der "Traumdeutung" eine Erregung im "System Wahrnehmung". Diese Erregung wandert dann ins "System Bewusstsein", wo sie den Gedanken auslöst: "Diese Torte gönne ich mir." Von dort aus erreicht die Erregung schließlich das "motorischen Ende" des psychischen Apparats, wo sie die Muskeln aktiviert: Ich betrete die Konditorei und setze mich an einen Tisch.

Im Schlaf ist der Zugang der Gedanken zur Muskeltätigkeit aber blockiert beziehungsweise stark eingeschänkt, eine koordinierte Muskeltätigkeit ist jedenfalls nicht möglich. Sollte der Schlafende hungrig zu Bett gegangen sein und ihm im Traum der Gedanke kommen: "Ich habe Hunger, ich will mir etwas kochen", kann die Erregung, die dieser Gedanke erzeugt, nicht die "richtige" Reihenfolge der Systeme durchlaufen, um am Ende die Muskeln zu aktivieren, so dass der Träumende "zur Tat schreiten", also aufstehen und in die Küche gehen kann, um zu kochen.

Statt "vorwärts" – von der Wahrnehmung des Hungergefühls über den Gedanken "Ich habe Hunger" zum motorischen Ende des psychischen Apparats, also zur Aktivierung der Muskel – verläuft die Erregung im Traum "rückwärts": Vom Gedanken "Ich will etwas kochen" zurück zum "System Wahrnehmung", das zum Beispiel das halluzinatorische Traumbild eines üppigen Mahls erzeugen kann.

Dieses "Rückwärtsgehen" der Erregung nennt Freud in der Traumdeutung Regression. Regression in diesem spezifischen Sinn findet aber nicht nur im Traum statt. Auch im Wachzustand kann eine von einer Wahrnehmung oder einem Gedanken ausgehende Erregung "rückwärts" verlaufen – und statt eine Aktivität beispielsweise eine Erinnerung auslösen.

Erinnerung, Traum und Halluzination sind also strukturell miteinander verwandt. Während wir uns aber, wenn wir uns an eine Szene erinnern, bewusst sind, dass diese Szene bereits vergangen ist, sind Träumende und Halluzinierende in der Regel von der Realität ihrer Halluzination beziehungsweise ihres Traums überzeugt.

Das Porträt auf der Wasserflasche soll einen IS-Kämpfer im syrischen Raqqa darstellen.
Foto: AP/Hussein Malla

Erinnerung versus Halluzination

Fassen wir nun – im Sinne eines Gedankenexperiments – die oben beschriebenen historischen Regressionen der Revolutionäre, ihre "Maskierung" als Gestalten der Vergangenheit, nicht als Rückfall in eine frühere Entwicklungsstufe auf, sondern als Regression im Sinne der "Traumdeutung". Wir könnten dann in der langen Reihe historischer und aktueller Regressionen revolutionärer (und pseudorevolutionärer) Bewegungen zwei Typen unterscheiden: Regression vom Typus Halluzination und Regression vom Typus Erinnerung. Je nachdem, ob jene "Beschwörung der Geister der Vergangenheit" den symbolischen Charakter einer Erinnerung hat, oder aber den (scheinbar) realen Charakter einer Halluzination.

Die Revolutionäre der Französischen Revolution etwa identifizierten ihre 1792 gegründete Republik mit der altrömischen res publica libera. Sie waren sich aber der Unterschiede zwischen jener antiken Staatsform und dem modernen Repräsentativsystem ihres eigenen Staates durchaus bewusst. Sie waren, anders gesagt, mit den Bürgern der antiken römischen Republik identifiziert – aber nicht identisch: Regression vom Typus Erinnerung.

Der Krieg, den der Islamische Staat in Syrien und im Irak führt, ist hingegen mehr als eine symbolische Reinszenierung der Heiligen Kriege des frühen Islam. IS-Kämpfer sind mit den islamischen Gotteskriegern in den Tagen Mohammeds nicht bloß identifiziert – sie sind islamische Gotteskrieger. Ihre Regression ist nicht symbolisch – sondern "real": Regression vom Typus Halluzination. (Sama Maani, 26.9.2017)

Fortsetzung folgt

¹ Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Frankfurt am Main 2007, S. 10 f

² Ebd. S. 9

³ Ebd. S. 10

Auswege aus der Gegenwart. Alexander Kluge im Interview mit "Der Freitag"

Veranstaltungstipp

Am Donnerstag, 5. Oktober, 19 Uhr, wird das Buch "Iran – Israel – Deutschland. Antisemitismus, Außenhandel und Atomprogramm", herausgegeben von Stephan Grigat in der Hauptbücherei am Gürtel, Urban-Loritz -Platz 2a, 1070 Wien, präsentiert. Mit Stephan Grigat, Sama Maani und Gerhard Scheit.