Nach großen Erfolgen im Exil vergessen: Marta Karlweis.

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Marta Karlweis, "Schwindel. Geschichte einer Realität". Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Johann Sonnleitner. € 22,- / 240 Seiten. DVB-Verlag, Wien 2017

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Nichts verleiht so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die menschliche Ge-meinheit. So könnte man für dieses Buch das berühmte Motto über die Dummheit variieren, das zu Beginn der Geschichten aus dem Wiener Wald steht.

Der Roman Schwindel von Marta Karlweis ist im selben Jahr erschienen wie Ödön von Horváths geniales "Volksstück gegen das Volksstück" – nämlich 1931 – und hat mit diesem noch viel mehr gemeinsam. Er schildert den Niedergang einer anfangs bürgerlichen Wiener Familie in der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, in einem kaustisch-brillanten Geschichtenkranz voller Bosheit, Unglück und Verblödung.

Verdienstvoll bemüht sich der Verlag Das vergessene Buch vor allem um Werke von Frauen wie Maria Lazar, Else Jerusalem und eben Marta Karlweis, von der kürzlich bereits der Roman Ein österreichischer Don Juan (1929) neu aufgelegt wurde. Auch ihr letztes literarisches Werk Schwindel. Geschichte einer Realität ist nun dort erschienen, wieder mit einem kundigen Nachwort von Johann Sonnleitner, der Leben und Werk der Autorin nachzeichnet und "die fröhliche Grausamkeit ihrer Menschenbeobachtung" gebührend würdigt.

Lug und Trug

Marta Karlweis war im literarischen Wien gut verankert, zwar von Schnitzler bespöttelt, aber mit Jakob Wassermann verheiratet. Im Exil kam ihre Karriere ins Stocken, sie wurde Psychoanalytikerin in Kanada und war als Autorin vergessen. Wie gut sie alle Schichten ihrer Heimatstadt kannte und sarkastisch beschreiben konnte, zeigte sie vor allem in ihren letzten Romanen: Während Ein österreichischer Don Juan von großbürgerlichen und adeligen Kreisen handelt, spielt sich Schwindel in kleinbürgerlichen bis proletarischen Niederungen ab. Auf drei Generationen einer Familie verteilt, werden von der Autorin zahlreiche ungustiöse Charaktere vorgeführt und Lug und Trug der gar nicht heilen Welt von gestern beschrieben.

Die älteste Generation kommt nur am Rand vor, eine wohlhabende und despotische Großmutter und deren verstorbener Mann. Die Alte ist schwerhörig, versteht sich zwar aufs Kommandieren und aufs Geld, lässt sich dieses aber von einem ihrer Söhne abluchsen, der damit ein heruntergekommenes Zinshaus kauft, ein finanzielles Desaster, das auch noch die Generation der Enkel in schwere Nöte bringen wird.

Von den vier Kindern der herrschsüchtigen alten Besitzbürgerin ist für den Romanverlauf die jüngste Tochter Johanna am wichtigsten, eine beschränkte und zänkische "fette Zwergin". Von ihren sechs Kindern werden die drei Töchter Malwine, Olga und Fritzi zu den Hauptfiguren dieser komischen Familientragödie.

Der titelgebende Schwindel steckt nicht nur in den betrügerischen Machenschaften um das wertlose Zinshaus, sondern er bezieht sich auch auf die Lügen der jungen Fritzi, die ihrer dementen Mutter Johanna den finanziellen Ruin verheimlicht und eine heile Familienwelt vorgaukelt. Die anderen Töchter sind mit miserablen Männern geschlagen, Olga mit einem verkrachten Musiker, Malwine mit einem Lateinlehrer, der von Höherem träumt, aber auch ein verhinderter Erbschleicher ist, mit berechnendem Blick auf die vermeintlich profitable Mietskaserne.

Satirisches Epochengemälde

Marta Karlweis gelingt hier sowohl ein grotesk-satirisches Epochengemälde von glücklosen Hochstaplern und armen Teufeln als auch ein veritabler Großstadtroman über das mehr elende als glänzende Wien der ersten drei Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts. Die hinterhältige Gemütlichkeit und die Topografie der Stadt sind eindrücklich präsent.

Die ominöse Immobilie im Familienbesitz, ein baufälliges Proletarierhaus, diese "Realität" liegt genau "dort, wo der elegante Rennweg die Freude an sich selbst verliert und sich aufgibt in einem Armeleutequartier". Das muss ungefähr bei St. Marx sein, wo der Rennweg übergeht in die noch tristere Simmeringer Hauptstraße.

Der Ruin einer Familie verläuft hier exemplarisch parallel zum Zerbröseln der Donaumonarchie, in einer steil abfallenden Parabel, von der hochfahrenden Großmutter bis zu ihrer erbarmungswürdigen Enkelin Olga. Sie, die Kronzeugin des Verfalls, wurde einst von ihrem rappelköpfigen Musikergatten gezwungen, ihr gemeinsames Kind zu Bauern wegzugeben. Mehr als zwei Jahrzehnte später verdingt sie sich immer noch mühsam als Näherin und bekommt nun ein ihr unbekanntes Enkelkind aufgehalst, das sie dennoch demütig annimmt.

Erzählt wird diese peinigende Familiengeschichte oft in einem hastigen Stakkato, und sie steht so ziemlich am Beginn der besten Tradition österreichischen weiblichen Schreibens (von Veza Canetti bis Jelinek). Die Figuren sind vielfach "akustische Masken", wie sie Elias Canetti zur selben Zeit perfektioniert hat, gefangen in ihrem oft aus inneren Monologen bestehenden beschränkten Geplapper. Virtuos wird zugleich ihre Gemeinheit entlarvt und ihre Hilfsbedürftigkeit gezeigt. (Franz Haas, 29.9.2017)