Im Flüchtlingslager Azraq leben im Moment rund 55.000 Menschen.

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Jameel Dababneh: "Die Menschen in Azraq müssen von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben."

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Die meisten syrischen Flüchtlinge leben vor allem in den Nachbarländern. In Jordanien sind etwa eine Million untergebracht. Das Land zeigt sich bisher als sehr gastfreundlich, sagt Jameel Dababneh, Leiter des Care-Teams im Flüchtlingslager Azraq, im STANDARD-Interview. Doch könnte sich das rasch ändern, wenn es nicht bald mehr internationale Unterstützung gibt.

STANDARD: Jordanien hat bereits viele Flüchtlingsgenerationen aufgenommen: Fast eine Million Palästinenser nach dem Zweiten Weltkrieg, 300.000 Iraker nach den Golfkriegen und nun rund eine Million Syrer. Wie sehr ist das Land an seine Grenzen gekommen?

Dababneh: Diese Grenzen sind schon erreicht. Jordanien ist ein kleines, armes Land mit 9,5 Millionen Einwohnern und sehr limitierten Ressourcen. Die Jordanier selbst haben ein gutes Herz und Millionen Flüchtlinge bei sich willkommen geheißen. Doch wenn die Ressourcen immer knapper werden, wird sich das ändern. Die Gastfreundschaft steht auf der Kippe. Wenn sich die internationale Gemeinschaft nicht an ihre Versprechen in Sachen Unterstützungen hält, wird es problematisch.

STANDARD: Die internationale Gemeinschaft lobt Jordanien vor allem dafür, dass die Führung kein Klima des Hasses gegen Flüchtlinge verbreitet. Wie funktioniert das im Alltag?

Dababneh: Jordanien hat eine Kultur der offenen Tür. Dass die Flüchtlinge so begrüßt werden, liegt vor allem daran, dass die Leute einen ähnlichen kulturellen Hintergrund haben: Syrer, Iraker und Palästinenser. Dieses freundliche Klima bleibt aber nur so lange, solange allen Bevölkerungsgruppen die gleichen Mittel zur Verfügung stehen. Noch gibt es keine Konflikte an der Oberfläche. Doch man muss sich dessen bewusst sein, dass auch die lokale Bevölkerung leidet. Da kann es schnell zu Auseinandersetzungen kommen.

STANDARD: Das Bevölkerungswachstum in Jordanien hat die durchschnittliche Trinkwassermenge pro Person im Land auf weniger als 150 Kubikmeter im Jahr sinken lassen. 500 Kubikmeter markieren laut Vereinten Nationen eine Wasserknappheit. Welche Auswirkungen hat das?

Dababneh: Das liegt nicht nur am Bevölkerungswachstum. In Jordanien gibt es keine Trinkwasserquelle – außer im Winter. Wenn es um die Ressource Wasser geht, ist das Land eines der ärmsten weltweit. Das heißt, dass die Jordanier selbst schon sehr sparsam mit dem Wasser umgehen. Meiner Meinung nach hat sich durch die Flüchtlinge nicht nur die Menge des Wassers reduziert, sondern auch die Frequenz, in der Trinkwasser nachgefüllt werden kann. Die Regierung tut ihr Bestes, um allen Menschen Wasser zur Verfügung zu stellen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das reichen wird. Ich hoffe, dass wir nie an den Punkt kommen, an dem Jordanien das Wasser ausgeht.

STANDARD: Schätzungen zufolge leben 93 Prozent der syrischen Flüchtlinge unter der Armutsgrenze. Wie kann man das ändern?

Dababneh: Man muss die lokale Bevölkerung und die Flüchtlinge gleichermaßen unterstützen. Hilfreich wäre zum Beispiel quasi eine Herzdruckmassage für Jordanien. Dabei sollten extra Spendengelder fließen, um die Wirtschaft des Landes zu reanimieren. Investitionen in die Wirtschaft sind das Wichtigste. Man muss den Menschen Märkte öffnen. Und vor allem muss man sicherstellen, dass die Menschen das Land nicht wieder verlassen wollen, um Arbeit zu finden.

STANDARD: Wie hat sich das Flüchtlingslager Azraq seit seiner Gründung im Jahr 2014 verändert?

Dababneh: Wir haben im Gründungsjahr mit 4.000 Flüchtlingen begonnen und bieten mittlerweile 55.000 Menschen eine Behausung. Davon sind 57 Prozent Kinder, und mehr als 44 Prozent der Familien werden von alleinerziehenden Frauen versorgt. Vor allem die tausenden älteren und beeinträchtigten Flüchtlinge stellen unsere limitierten Ressourcen vor Herausforderungen. Die Menschen in Azraq müssen von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben. Das liegt weit unter der Armutsgrenze. Das bedeutet auch, dass sie gegen Ende des Monats zu hungern beginnen, weil ihnen das Geld ausgeht. Deshalb müssen wir ihnen alternative Einkommensmöglichkeiten bieten.

STANDARD: Im größten Flüchtlingslager Jordaniens, in Zaatari, gibt es seit kurzem ein Jobcenter. Auch für Azraq ist eines angedacht. Gibt es da schon Erfahrungswerte?

Dababneh: Für Erfahrungswerte läuft das Projekt noch nicht lange genug, wir haben erst begonnen. Man muss sich aber immer vor Augen halten, dass es für Flüchtlinge nur wenige Berufsmöglichkeiten in Jordanien gibt. So etwa in der Textilindustrie oder am Bau. Wir wissen auch noch nicht, wie die jordanische Bevölkerung darauf reagieren wird, dass Flüchtlinge Jobs bekommen. Immerhin liegt die Arbeitslosenquote im Land bei etwa 13 Prozent.

STANDARD: UNHCR hat an die Europäische Union appelliert, 40.000 Flüchtlinge unter anderem aus Lagern in Jordanien aufzunehmen. Welche Auswirkung hätte das, wenn die EU die Menschen aufnimmt?

Dababneh: Es wäre ein Tropfen auf den heißen Stein. Immerhin handelt es sich um 40.000 Menschen von Millionen in der Region. Die Frage, die ich mir stelle, ist aber immer: Hat man die Menschen gefragt, ob sie nach Europa umgesiedelt werden wollen? Ich habe den Eindruck, dass die Flüchtlinge lieber nahe an ihrer Heimat bleiben wollen. Dafür muss man ihnen aber hier Hilfe zukommen lassen. (Bianca Blei, 30.9.2017)