Vor kurzem noch Buhlschaft in Salzburg, jetzt verbissen um ihr Findelkind kämpfende Mama: Stefanie Reinsperger als Grusche (re.) mit Peter Luppa und Veit Schubert (v. li.).

Foto: Imago / Martin Müller

Unter den zahllosen starken Frauen, die der geschworene Frauenfreund Bertolt Brecht geschaffen hat, zählt die Wäscherin Grusche zu den unwahrscheinlichsten. Erfunden während der langen Jahre des Exils, wird die Magd in ein märchenhaftes Georgien ("Grusinien") entführt. Dort, inmitten blutiger Wirren einer zerfallenden Feudalgesellschaft, liest Grusche ein weggelegtes Baby buchstäblich vom Boden auf.

Das Kleinkind, wiewohl edlen Geblüts, dient Demonstrationszwecken. Im Berliner Ensemble wird es von der leiblichen Mutter (Sina Martens), einem törichten Modepüppchen, wie ein Lehrmittel vorgestreckt. Brechts Episches Theater, so heißt es, überwältigt nicht. Es setzt auf die Überzeugungskraft der besseren, das heißt: widersetzlichen Argumente.

Dem alten Lehrmeister Brecht gibt am ehesten recht, wer ihm am heftigsten widerspricht. Und so ist aus Anlass der Premiere von Der Kaukasische Kreidekreis am Berliner Schiffbauerdamm von einem wahren Glücksfall der neueren Brecht-Pflege zu berichten.

Stummes Bündel in einem See von Blut

Michael Thalheimer gehört nunmehr zu den Hausregisseuren am Berliner Ensemble. Er hat den ominösen Kreidekreis nicht etwa schullehrerhaft nachgezogen. Er legt das stumme Bündel in einen See von Blut. Brechts verwickelte Gerechtigkeitsdebatte wird zur physischen Zerreißprobe erklärt. Schauplatz der Ballade ist der leihmütterliche, durch nichts zu erschütternde Leib der Grusche. In Berlin, wo Neo-Intendant Oliver Reese darangeht, das ehrwürdige Brecht-Museum wieder einmal zu entstauben, flackert und schreit als Grusche die Österreicherin Stefanie Reinsperger.

Brecht glaubte einst, der Balladenstruktur seines Kreidekreises eine Einleitung voranstellen zu müssen: Zwei kaukasische Kolchosen streiten um Grund und Boden für den besten Ernteertrag. Thalheimer lässt alle Rücksichten auf den historischen Kommunismus fahren. Elektrische Gitarrenmusik (Bert Wrede) hallt ohrenbetäubend durch den schwarzen Bühnenwürfel. Ein Spot hebt den Rücken des "Sängers" (Ingo Hülsmann) aus der Finsternis heraus.

Ausbruch aus dem Komfortkäfig der Suhrkamp-Ausgabe

Von nun an werden die Figuren, die einst orientalischen Papierdrachen glichen, zum Nachsprechen verdonnert. Der Erzähler, der Brecht in uns allen, behält immer recht. Doch deshalb ist das Chaos noch nicht aufgebraucht. Es ist, als würden kapitalistische Raubtiere aus dem Komfortkäfig der Suhrkamp-Ausgabe entlassen. Thalheimer hat ihnen Fratzen verpasst. Fürsten, Panzerreiter, Bauern glotzen starr hinaus in die Wildnis. Dorthin, wo man Säuglingen den kleinsten Schluck Milch verwehrt.

Grusche (Reinsperger) lernt die sozialen Lektionen nachdrücklich. Nachdem man ihren fürstlichen Arbeitgeber wie ein Schwein abgestochen hat, muss sie sich auch noch vom Verlobten verabschieden. Das stärkste Argument ist der Säugling in ihren Armen. Zu seiner Verteidigung aktiviert Reinsperger alle Produktivkräfte. Mit ihren meterlangen Blondzöpfen durchquert sie ganz Grusinien – und kommt doch keinen Zentimeter vom Fleck. Sie schreit wie am Spieß – und bleibt doch feinhörig gegenüber der stummen Gemeinheit einer auf Übervorteilung gegründeten Welt.

Überbietung der Amoral

Der zweite Teil des Kreidekreises ist eng an die Gestalt des Richters Azdak (Tilo Nest) geknüpft. Dieser moralische Lump begegnet der Verderbtheit der Welt, indem er sie in Sachen Korruption überbietet. Er hält am Schluss die beiden Kindsmütter zur salomonischen Zerreißprobe an. Azdak steht als Erdgeist böse zungenrollend und Brecht-Text lutschend erhöht auf einem Schemel. Er wickelt die finale Verhandlung als Farce ab. Ein Caliban, der sich behaglich den Wanst reibt.

Das stark gekürzte Stück zuckt wie ein unter Strom gesetzter Kadaver. Weil Grusche gegen die Gesetze der Blutsbande als Mutter Recht behält, darf sie sich am Ende als Madonna der Brecht-Kirche mit dem Kind auf den Schemel kauern. Blut ist dicker als jeder Brecht-Aufguss. Hier wird das Beweisverfahren durch Ausstellung verfremdender Mittel überzeugend geführt. Ein umjubelter Paukenschlag zum Auftakt der Ära Reese. (Ronald Pohl aus Berlin, 25.9.2017)