Zwölf Jahre lang war Veronica Kaup-Hasler Indentantin des Steirischen Herbsts.

Foto: J.J. Kucek

Ich habe lange nachgedacht, ob es einen Begriff, einen Satz gäbe, der dieses Festival in seiner Gegenwart und Geschichte am besten fasst. Fündig geworden bin ich bei einem wunderbaren Satz von Jörg Schlick, diesem großartigen Grazer Vernetzungskünstler, der in der Geschichte der Stadt und für den Steirischen Herbst eine wesentliche Rolle gespielt hat: DIESE WILDNIS HAT KULTUR.

Dieses in Europa einzigartige Festival war von Anfang an ein wuchernder Organismus, ein Hybrid – gewachsen aus der Initiative einzelner Kulturschaffender und kultureller Institutionen, die sich mit der geistigen, reaktionären Enge im bürgerlichen Graz nicht abfinden wollten. Das 1967 vom ORF gegründete musikprotokoll, die steirische Akademie, Jugendmusikfest Deutschlandsberg, die Oper und das Schauspielhaus Graz, das Forum Stadtpark, die Neue Galerie waren von Anfang an entscheidende Motoren des Steirischen Herbst im Kampf für das Neue.

Visionäre Kulturpolitik

Vor ein paar Tagen hat der Komponist Georg Friedrich Haas eine Festrede zum Jubiläumsempfang des Landes Steiermark und der Stadt Graz gehalten, die nur legendär genannt werden kann. Wir hatten im Vorfeld lange darüber gesprochen, was der Steirische Herbst für ihn bedeutet, wie er die Frage nach dem "Where Are We Now?" dem diesjährigen Leitmotiv, für sich beantworten würde und wie wir der Gefahr einer Selbstbeweihräucherung, die oft mit Festreden einhergeht, entkommen könnten. Seine Selbstverortung wurde zu einem langen Gespräch über seinen Antrieb Künstler zu werden, über das Graz und die Steiermark seiner Kindheit und Jugend, über das Aufwachsen in einer Familie, in der der Nationalsozialismus weit über 1945 hinaus weiterlebte. In anderen Formen, verschwiegen, halböffentlich wurde das faschistische Weltbild weitergetragen – bis heute.

Gegen diesen Zeitgeist also wurde der Steirische Herbst ins Leben gerufen. Von einer visionären liberalen Kulturpolitik, die damals nicht opportunistisch auf Mehrheitsfähigkeit schielte. Eine Politik, die eine Kunst förderte und mehr noch: einforderte, die sie selbst und eine konservative bürgerliche Klientel immer wieder auch angegriffen hat. Interessant, wenn man bedenkt, dass auf politischer Ebene der österreichische Staat – anders als die Bundesrepublik Deutschland– darin versagte, die Verantwortung Österreichs am Nationalsozialismus einzugestehen, sie gesellschaftlich zu debattieren und Konsequenzen zu ziehen. Im Gegenteil, wie Georg Friedrich Haas bemerkt:

"Man bot den Nazis Jobs an – im öffentlichen im halböffentlichen Bereich. Falls nötig, schaffte man einen neuen Dienstposten. Sie waren wieder da. Und sie gingen so weit, wie man sie gehen ließ. Innerhalb weniger Jahre unterwanderten sie weite Teile des öffentlichen Lebens. Geheim. Oder – besser gesagt: halböffentlich."

"Heimat ist Tiefe, nicht Enge"

Es ging den Gründern dieser Zeit also um die bewusste Einsetzung eines kulturellen Reibebaums. "Heimat ist Tiefe, nicht Enge." Ein legendär gewordener Satz von des Politikers Hanns Koren, der als weltoffener Volkskundler mit Mitstreitern wie Emil Breisach, Kurt Jungwirth oder Wilfried Skreiner nicht müde wurde das Sperrige, das an den Rändern Befindliche einzufordern und zu fördern. Ich zitiere aus der Gründungsrede von Hanns Koren:

"Der Künstler ist nicht der Dekorateur einer bürgerlichen Welt, deren sentimentale Gefühle, deren heroische Erbauungen und deren sinnliche Empfindungen er zu illustrieren hat, sondern er ist heute der Mitwissende, der Mitleidende und der Mitschuldige geworden an dieser Zeit, an ihren Zuständen, und seine Werke sind die Urkunden, mit denen er diese Zugehörigkeit ausweist und mit denen er sich auch verpflichtet, einen neuen Weg in eine neue Welt zu suchen."

Where Are We Now? – And how did we get here?
Eine Auseinandersetzung mit dieser Geschichte fördert viel Paradoxes zutage – in den Anfangsjahren fanden sich neben Uraufführungen von Peter Handke, Krystof Penderecki und György Ligeti auch Aufführungen klassischer Opern, Musicals oder Zirkusaufführungen. In dieser programmatischen Wildnis setzte sich aber auf Dauer eine herausfordernde Auseinandersetzung mit Kunst und Wissenschaft durch, und auch das Prinzip, neue Arbeiten zu beauftragen – von lokalen wie internationalen Künstlerinnen und Künstlern. Nie wurde der Steirische Herbst müde, stets neue und durchaus widersprüchliche Positionen zur jeweiligen Gegenwart zu beziehen. Ein "Zeiterkundungsfestival, dem das Nomadologische eingeschrieben war – wie es meine Vorgänger treffend bezeichneten. Es ist aber auch eine Geschichte, die von Anfang an eine Geschichte des Zweifels an der Institution selbst war – schon 1972 wurde der baldige Tod des Festivals konstatiert, aus den Abgesängen des Steirischen Herbst ließe sich ein mehrstimmiges Chorwerk in Auftrag geben.

Tradition der Brüche

Wie konnte und kann der Steirische Herbst diese Angriffe über Dekaden überleben? Wo sonst Weiterführung, Kontinuität von Kulturinstitutionen eingefordert wird, hat der Herbst eine ganz andere Strategie entwickelt: Die Tradition der Brüche und der permanenten Neuerfindung. Von Intendanz zu Intendanz wurde der Herbst immer wieder neu interpretiert und konzipiert. Diskontinuität, Bruch mit der jeweils etablierten Tradition, Selbstbefragung und Infragestellung sind Teil des genetischen Codes des Steirischen Herbst. Und gerade diese waren und sind Garant der Dauer. Es ist die Wildnis, die Kultur hat.

Das Unberechenbare, das sich stets ändernde Momentum, das Ungesicherte. Eine derart spannende Geschichte kann uns Nachgeborene nur animieren, macht nur Sinn, wenn sie produktiv gemacht wird, wenn mit ihr gearbeitet wird. Dabei verstehen wir unter einem fruchtbaren Umgang mit der Vergangenheit Re-Flexion im Sinne eines Zurückbeugens, eine Choreografie, die künstlerisch tanzend nach vorne, hin zum Zukünftigen, zum Unbekannten drängt. Und so bleibt der Steirische Herbst auch in seinem 50. Jahr vor allem an der Zukunft orientiert.

Where Are We Now? Diese Frage ist immer mit einem Moment des Innehaltens, der Selbstbeobachtung, der Suche nach Orientierung verbunden. Sie hat mich über all die Jahre als Basis für Gespräche mit unzähligen Künstlerinnen und Künstlern und auch als Selbstbefragung begleitet – es ist die Frage danach, wo wir uns im Jetzt verorten, wie Kunst auf Gegenwart, auf Gesellschaft reagiert. Mit welcher Notwendigkeit machen wir Kunst? In einer Zeit, in der die Unübersichtlichkeit und Desorientierung zum beherrschenden Lebensgefühl geworden ist, in der das "Post-Faktische" nicht nur zum Wort des Jahres gekürt wurde, sondern reale politische Fakten zur Folge hat, wie etwa die Wahl von Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten, ist die Frage "Where Are We Now?", nach dem Ort, an dem wir uns als Gesellschaft befinden, dringend nötig.

"Kunst kann Leben verändern"

Was aber konnte Kunst bewirken in den letzten Jahrzehnten, die zunehmend geprägt sind von Ökonomisierung, Nationalismus und Entsolidarisierung? In einer Zeit, in der Werte der Solidarität, des sozialen Ausgleichs im gesellschaftlichen wie auch im internationalen Raum zunehmend von nationalistischen Parametern verdrängt werden? Agieren wir Kulturschaffende letztlich in einer Filterblase, die keinerlei Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Realität hat? Wen erreichen wir mit unserem Tun? Inwieweit erzeugen wir Kunstschaffende Exklusionen, haben uns achselzuckend und mitmachend abgefunden mit der Hermetik und den jeweiligen eingefahrenen Ritualen von Vernissagen, Biennalen, Konzerten, Performances?

Fragen, die das Handeln der Kunst selbstkritisch überprüfen und die wir nicht müde werden sollten, weiter zu stellen. Wenn das stimmt, was ich zutiefst glaube: dass Kunst essenziell und überlebensnotwendig ist – für jeden Einzelnen und jede Einzelne und für eine liberale, offene Gesellschaft. Kunst kann – und Georg Friedrich Haas hat das für sich klar beantwortet – Leben verändern.

Dabei muss Kunst nicht unbedingt Lösungen anbieten. Auch der Steirische Herbst stellt mit dieser Festival-Ausgabe die alternative Welt nicht bereits als Entwurf in den Raum, sondern erprobt verschiedenste Setzungen, in denen diese andere Welt zu denken und zu entwerfen wäre. Welche Sprachen braucht es dafür, welche Sinne, welche Art von Denken, welche Räume und Zustände? Die Antworten der Kunst sind mitunter provokant und verstörend, missverständlich, zweifelnd, herausfordernd und öffnen vor allem Horizonte des Fragens. Kunst produziert Schönheit ebenso wie Verstörung, beobachtet aus der bewusst gewählten Distanz, mischt sich aber auch aktiv in gesellschaftliche Momente ein, arbeitet konkret an Veränderung, generiert neue soziale Orte, schafft sinnliche Erfahrungs- und Denkräume.

Abstraktionen von permanenten Erregungszuständen

Wie zum Beispiel die dänische Choreografin Mette Ingvartsen am heutigen Abend. Ich habe ihr diese Frage gestellt "Where are you, where are we now?" Die Frage hat sie animiert, sich auf die Spurensuche der eigenen künstlerischen Biografie zu machen, eine sehr frühe Arbeit, die sie am Anfang ihrer mittlerweile großen Karriere gemacht hat, einer künstlerischen Revision zu unterziehen, sie aus heutiger Sicht zu überarbeiten und weiterzutreiben. Ihre künstlerische Analyse der Gegenwart bezieht sich auf eine durch und durch sexualisierte Gesellschaft, in der Intimität, Privatheit, Öffentlichkeit ineinandergreifen. Ständig sind wir umgeben von erotisch aufgeladenen Bildern, von Lust verheißenden Körpern. Mette Ingvartsen abstrahiert diese permanenten Erregungszustände durch die Inszenierung von ausgedehnten Lustzuständen, durch Verlangsamungen ebenso wie zunehmend energievolle Beschleunigungen. Später löst sich dieses bewegte und abstrakte Bild überraschend auf – geht über in den zweiten Teil des von ihr als Gesamtkunstwerk konzipierten Eröffnungsabends, in dem die Sinnlichkeit gemeinsamen Essens mit dem Publikum, das Teilen, das sich Begegnen und vielleicht auch Miteinander-Tanzen im Mittelpunkt steht, bevor im dritten und letzten Teil des Abends das Hamburger Elektro-Brass-Duo "Die Vögel" den musikalischen Abschluss liefert.

Where Are We Now?
Dieser Abend ist aber nur der Auftakt zu einem Steirischen Herbst, der dieses Jahr mit seinem Programm mehrere Ausgaben füllen könnte. Es ist unmöglich, hier einen Abriss des Programms zu geben – deutlich wird allerdings, dass in dieser 50. Ausgabe besonders viele Künstlerinnen und Künstlern mit neuen Arbeiten vertreten sind – ein großer Bruch zu den ersten Dekaden des Festivals – hier hat sich gesellschaftlich doch einiges auch zum Positiven verändert. Ob Mette Ingvartsen, Gunilla Heilborn, Florentina Holzinger, Marlene Monteiro Freitas ... oder auch Kelly Copper vom Nature Theater of Oklahoma.

Halden und Erdstürze der Sprache

Sie arbeitet mit ihrem Partner Pavol Liska in der Hochsteiermark an einem Herzensprojekt, das wir seit über zwei Jahren vorbereiten. Es geht um die Auseinandersetzung mit einem Koloss an Sprache – um Elfriede Jelineks "Die Kinder der Toten" von 1995. Einem "Gespensterroman", der über 666 unheimliche, phasenweise hochkomische, dann wieder beklemmende Seiten hinweg aufräumt mit "untoten" Österreich-Klischees und nationalem Pathos. Sprachmächtig entwickelt sie die Halden und Erdstürze, aus denen die Opfer der Shoah sich einen Weg zurückbahnen in eine österreichische Gegenwart, eine Landschaft, "die sich auf Prospekte druckt", auf denen bei Jelinek vertraut verfremdete (Wahl-)Slogans stehen wie "Europas Nachwuchs ist gezüchtet". Oder: "Unser Geschmack heißt Österreich".

Diese unglaubliche Prosa, die Jelinek selbst als ihr wichtigstes Werk beschreibt, hat sie dem Nature Theater of Oklahoma zur freien Bearbeitung geschenkt. Pavol Liska und Kelly Copper haben daraus ein Drehbuch entwickelt, das schon jetzt, während wir hier die Eröffnung feiern, rund um Neuberg an der Mürz verfilmt wird. Mit zahlreichen Begleitveranstaltungen und hunderten lokalen Beteiligten ist dieses Projekt eines der größten, das bislang vom Steirischen Herbst realisiert wurde.

Außerdem spitzt sich darin zu, was für mich zentrales Anliegen meiner Intendanz ist: Es ist der Versuch, schwierige und keinesfalls leicht zugängige Kunst zu ermöglichen, sie zu öffnen, und die Teilhabe eines Publikums zu ermöglichen, das aus anderen kulturellen, sozialen Lebenszusammenhängen kommt als die klassische Museumsgängerin oder der klassische Theaterabonnent. Sei es in partizipativen künstlerischen Projekten oder in eigens von unserer Kulturvermittlung entwickelten Formaten: Die Auseinandersetzung mit Kunst wird dort politisch, wo es gelingt, Brücken zu schlagen, Öffnungen zu schaffen, Neugierige abzuholen und gemeinsam uns auch dem scheinbar schwer Zugänglichem auszusetzen. Lust auf Zumutung zu machen. Das sind die Voraussetzungen für Erlebnisse, die Vorurteile ins Schwanken und durch beharrliches Ruckeln und Infrage-Stellen hoffentlich zu Fall bringen.

Ein besonderer Herbst

Dieser Herbst ist auch für mich ein besonderer – es ist mein zwölfter und letzter. Das Festival ist in dieser Zeit weiter aufgeblüht – tausende Künstlerinnen und Künstler haben in dieser Zeit mitgewirkt und wir haben zigtausende Menschen erreicht. Dies ist einem exzellenten, professionellen und begeisterungsfähigen Team zu verdanken, von dem Kunst- und Kulturschaffende aus aller Welt schwärmen. Leben, Arbeit, manchmal schwere Zeiten, aber auch sehr viel Freude und Glück haben wir miteinander geteilt.

In all den Jahren gab es zahlreiche Ermöglicher dessen, was unsere Vision des Steirischen Herbst war. Ich danke den Eigentümern, dem Land Steiermark, der Stadt Graz und dem Bund für langjährige Förderverträge, die die Basis für unser Tun sind. Und ich danke ganz besonders jenen Unterstützern und Unterstützerinnen aus der Privatwirtschaft, mit denen wir enge und intensive gelebte Partnerschaften haben. Sie allein haben in den letzten 12 Jahren durch ihren Einsatz eine ganze Edition des Steirischen Herbst ermöglicht. Allen voran möchte ich Stefan Stolitzka danken, der mit legero united – the shoemakers | con-tempus.eu als Generalsponsor die größte Säule der privatwirtschaftlichen Unterstützung darstellt. Ebenso sei den Jubiläumssponsoren, insbesondere der Steiermärkischen Sparkasse gedankt, die diese besondere Ausgabe des 50. Steirischen Herbst mit ermöglicht haben. Da die Anzahl der Unterstützer so groß ist und ich hier den Rahmen sprengen würde, haben wir wieder einen besonderen Trailer gemacht, mit dem wir uns sehr herzlich bedanken wollen.

"Jedes Jahr trifft die Steiermark der Schlag"

Ich selbst bin Ihnen allen, dem Publikum, den vielen Künstlerinnen und Künstlern und dem Team des Steirischen Herbst und meiner Familie, die die Phasen der Fernwartung wacker getragen hat, zu großem Dank verpflichtet – sie alle haben mein Leben verändert.

Lassen Sie mich schließen mit der Stimme der Kunst, einem Kurztext von Elfriede Jelinek, den sie für unser Buch zum 50. Jubiläum verfasst hat:

Die Steiermark ist schon lange da. Und jedes Jahr wieder trifft sie der Schlag. Er reißt sie aus sich heraus, es stimmt, es ist wieder Herbst geworden. Ob wir ihn diesmal überleben? Ob dieses Land von seiner eigenen Bildfläche verschwinden und anderen Ländern Platz machen wird? Nein. Wird es nicht. Im Gegenteil. Es wird sich behaupten, es wird sogar noch an Boden gewinnen. Keiner wird es überspringen und woandershin gehen können. Es wird selber überspringen. Und in diesem Überspringen, in diesem Sprung wird viel geschehen, das vielleicht eine Zeit lang in der Luft stehenbleibt, dann aber vor den Sehenden, die dort wartend stehen, aufprallt und sie mitreißen wird, egal, wer oder was da springt.

(Veronica Kaup-Hasler, Eröffnungsrede zum 50. Steirischen Herbst, 22.9.2017)