Am 1. Oktober feiert Günter Wallraff seinen 75. Geburtstag.

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Köln – Günter Wallraff war als Kind am liebsten Indianer. "Die anderen wollten immer die Cowboys sein, die Helden. Ich habe mich schon damals mit den Unterdrückten identifiziert." Damals, das war vor sechs, sieben Jahrzehnten. Wallraff ist heute international bekannter Autor, renommierter Undercover-Journalist.

Er schlüpfte in die Rolle des Fließband-Malochers, des türkischen Gastarbeiters Ali, wurde zum "Bild"-Redakteur Hans Esser, Paketschlepper, Obdachlosen. Die dabei selbst erduldeten Missstände prangerte er dann öffentlich an, um Verbesserungen zu erzwingen. Da will Wallraff auch künftig nicht nachlassen.

Durch Bomben unbewohnbar geworden

Am 1. Oktober wird der Schriftsteller 75 Jahre alt – und geht zu diesem Anlass auf eine Zeitreise. Im bergischen Örtchen Odenthal-Blecher, 40 Kilometer von Köln entfernt, sucht er das Häuschen, in dem er als kleiner Bub bis 1946 untergeschlüpft war. "Mein Vater war Ford-Arbeiter, musste sich so durchschlagen. Meine Mutter war Pädagogin, sehr liebevoll." Die Wohnung der Eltern in Köln war durch Bomben unbewohnbar geworden, so wurden die drei als Flüchtlinge bei einer Familie in Blecher einquartiert. Und da ist es. Wallraff steht vor einem etwas verfallenen Fachwerkhaus. "Wie idyllisch. Plötzlich kommt alles wieder."

Die Großmutter wohnte am Ortsende, erinnert sich der Kölner Autor, den Bestseller wie "Der Aufmacher" (1977) oder "Ganz unten" (1985) berühmt machten. "Sie hatte eine Andenkenbude auf dem Weg zum Altenberger Dom. Auf dem Rückweg habe ich ihr immer geholfen, die ganzen Sachen wieder hochzuschleppen." Die Oma spielte eine wichtige Rolle. "Meine Eltern habe ich eigentlich immer nur in krankem Zustand erlebt." Zwischendurch muss Günter einige Monate in ein Kinderheim. In Köln geht er nach dem Krieg zur Schule. Das Gymnasium bricht er mit 16 ab, als sein Vater stirbt. Er muss Geld verdienen, macht eine Buchhändlerlehre.

Plant "sinnvolle Angelegenheit, die mit Risiko verbunden ist"

Ein Senior beobachtet den Besucher. "Sind Sie Herr Wallraff?" Es stellt sich heraus: Er und Rolf Hemmelrath (83) kannten als Bengel dieselben Leute, den "strammen Nazi Fritz" und den "NS-Gegner, der sich im Wald verstecken musste". Ihre erste Schokolade bekamen beide von einem amerikanischen Soldaten. Aufgewühlt wirkt Wallraff. "Die alten Geschichten dämmern wieder."

Was bedeutet ihm Familie heute? "Sie gibt Halt." Seine Frau und seine fünf erwachsenen Töchter zwischen 19 und 50 Jahren sind für ihn "großartige Frauen, ohne die ich das alles nicht geschafft hätte." An dem "belastenden Gedenktag" – also seinem 75. Geburtstag – wird er wieder einmal verschwinden. Er plant für den 1. Oktober eine "sinnvolle Angelegenheit, die am Ende mit Risiko verbunden ist". Mehr soll nicht an die Öffentlichkeit.

Machte sich auch Feinde

Wallraff, drahtig, fast hager, erzählt: "Ich konnte mir nie vorstellen, so alt zu werden. Jetzt gebe ich mir immer noch zwei Jahre und erlebe diese sehr bewusst, als Geschenk." Und: "Der Tod hat für mich keinen Schrecken, nur das Siechtum." Der als Kind zuerst evangelisch, dann katholisch umgetaufte Autor nennt sich einen "bekennenden Agnostiker", schätzt aber zugleich die "Sozialbekundungen" von Papst Franziskus. "Ich muss aufpassen, dass ich nicht auf meine alten Tage noch zum gläubigen Menschen werde, davor bewahre mich Gott."

Wallraff gilt vielen als moralische Instanz. Aber er hat sich durch seine Recherchen unter falscher Identität auch Feinde gemacht. Seine Arbeitsweise war lange als verwerflich kritisiert worden, viele seiner Veröffentlichungen wurden juristisch angefochten. Zermürbende Phasen und Stimmungstiefs kennt er.

Erdogan sei ein "Diktator in spe"

Aktuell engagiert sich Wallraff für inhaftierte Kollegen in der Türkei. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan – "ein Diktator in spe" – dränge das Land in eine "Islamokratur". Wallraff wirkt bei Solidaritätsaktionen für Dogan Akhanli oder Deniz Yücel mit, hält Lesungen, sammelt Geld.

Täglich erreichen ihn Hilferufe aller Art. "Ich würde das gerne auf eine breitere Basis stellen, die Flut der Zuschriften überfordert mich letztlich." Die Arbeit mit seinem "Team Wallraff" bei RTL will er fortsetzen. In mehreren Branchen, darunter Pflege, Logistik oder Gastronomie, haben seine Reporter zweifelhafte Zustände aufgedeckt.

Und doch bleibt ein strenges Selbsturteil

Der Rastlose mischt sich auch ein für Flüchtlinge – derzeit an der Seite des engagierten Pensionisten Dieter Heinrich. Für kleine und "versiffte Unterkünfte" sollten Asylsuchende in Odenthal plötzlich mehr als 500 Euro zahlen. "Man möchte die Leute vom Hof bekommen", vermutet Heinrich. Wallraff will intervenieren.

Kräftezehrende und gefährliche Einsätze hat er nie gescheut. Trotzdem scheint es nicht genug zu sein, Wallraffs Selbsturteil ist streng. "Ich empfinde eher ein Ungenügend – was ich noch alles hätte machen müssen und können. Manchmal habe ich auch versagt." (APA, dpa, 25.9.2017)