Bild nicht mehr verfügbar.

Die Parteichefs und -sprecher der deutschen Parteien am Sonntagabend bei einer Analyse des Ergebnisses in zeitweilig ziemlich aufgeheizter Atmosphäre.

Foto: Reuters

Der Spiegel

(Hamburg) Es gibt etwas, das sie alle gemein haben an diesem Abend: Angela Merkel, Martin Schulz, Horst Seehofer. Sie alle haben ihren Parteien historische Niederlagen beschert. Am Tisch sitzen dann in der "Elefantenrunde", man reibt sich die Augen: lauter Gewinner. Merkel hat gewonnen, weil sie mehr Stimmen hat als die anderen, wenn auch mit einem Rekordverlust für die Union. Schulz hat gewonnen, weil er endlich glaubt, eine Rolle gefunden zu haben – lieber würdevoll in der Opposition als bis zur Unkenntlichkeit gestaucht in der Regierung. Die CSU hat gewonnen, weil die meisten der bayerischen Wähler für sie stimmten. Wenn auch wohl mit dem zweitschlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte.

Verlierer aber sind auch die anderen, die Grünen, die Linken. Denn mit am Tisch sitzt die AfD. Und die anderen haben das nicht verhindert. Sie sind nun bemüht, damit möglichst wenig zu tun zu haben.

Aber was nutzt ein Denkzettel, den keiner liest?

Die Welt

(Berlin) Auch wenn die Kanzlerin beim Blick auf ihre Partei genug zu tun hat, sollte sie sich fragen, warum Koalitionspartner bei ihr derart geschreddert werden. Mit großem Hunger hatte sich die Kabinettschefin die Themen und Positionen der Sozialdemokraten einverleibt und das Profil der Union entschärft. Die FDP wurde zwischen 2009 und 2013 in der Koalition mit Merkel fast vernichtet, und jetzt ist eben die SPD im Eimer. Keine Reklame für die Kanzlerin als künftigen Regierungspartner.

TAZ

(Berlin) Die AfD wird provozieren und brüskieren, wird übertreiben und herunterspielen, Ängste wird sie ausbreiten und Aggressionen schüren. Davon lebt sie. Die Plenardebatten verfolgt nur selten ein breites Publikum vor dem Fernseher. Dennoch ist der Bundestag ein politischer Mittelpunkt, er ist das Nervenzentrum der Demokratie. Wenn das Nervenzentrum angegriffen wird, kann dies den Organismus lähmen. Das muss verhindert werden.

FAZ

(Frankfurt) Der Einzug der AfD ist Demokratie bei der Arbeit, es ist der manifest gewordene Protest gegen die ungelösten Fragen der Einwanderung. Es ist Ausdruck der Angst und Unsicherheit, die einen Teil der Republik erfasst hat. Aber: Demokratie bei der Arbeit ist eben auch, dass der Rest des Parlaments und des Landes – also die weit überwiegende gemäßigte Mehrheit – sich der Verachtung dieser Rückwärts-Bewegung entgegenstellt und diese mit allen Methoden der parlamentarischen Demokratie bekämpft, nicht zuletzt mit überzeugender Regierungsarbeit. Es werden turbulente Jahre!

Süddeutsche

(München) Früher, als der Ostblock und der Kommunismus noch existierten, gab es in der Bundesrepublik zweimal im Jahr einen Testlauf aller Sirenen. "Probealarm" hieß das. Hunderttausende Sirenen heulten auf den Dächern von Schul- und Rathäusern. Das diente der Vorbereitung auf Angriff und Ernstfall; man saß in der Schule und überspielte sein Unbehagen durch Feixereien. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde das Sirenennetz abgebaut. Seit 1992 heult nichts mehr. Es gibt jetzt aber neue Gefahren; die kommen aus dem Inneren der Gesellschaft. Nun muss man selber heulen – aber es nicht dabei belassen. Heulen ändert nichts.

Vor Jahrzehnten, als die NPD Wahlerfolge hatte, klebten an den Unis Aufkleber mit dem Satz "Neonazis rüsten fleißig für ein neues 33". Der Reim ist zu billig, um damit heute viel auszurichten. Die Auseinandersetzung mit der AfD wird fantasievoller und energischer sein müssen. Die anderen Parteien müssen sich klar von der AfD abgrenzen und zugleich mit dem heutigen Tag beginnen, AfD-Wähler zurückzugewinnen. Schon die Koalitionsverhandlungen gehören zu diesem Versuch. Er ist eine Bewährungsprobe für die deutsche Demokratie.

The Times

(London) Angela Merkel ist nicht glücklich damit, die Anführerin der freien Welt zu sein. Selbst wenn sie solche Ambitionen gehabt haben sollte, wären diese nun durch die Umstände ihres Wahlsiegs beeinträchtigt. Vier Amtszeiten sind in Deutschland nicht ohne Beispiel. Doch sie können vergiftet sein, wie ihr früherer Mentor, der verstorbene Helmut Kohl, einst erleben musste. Viele glauben gar, dass Merkel nicht für die gesamte Legislaturperiode im Amt bleiben wird.

Corriere della Sera

(Rom) Instabil. So, hat sich Deutschland, wider Erwarten, gestern Abend enthüllt. Das Land, das im vergangenen Krisenjahrzehnt der Anker war, der Europa vor dem Abdriften bewahrt hat, das Land, von dem man bis vor ein paar Tagen nicht glaubte, dass es Überraschungen bereithält, hat gewählt: und hat das traditionelle politische System auf den Kopf gestellt. (...) Ein Ergebnis, das ein politisches Erdbeben in Deutschland ausgelöst hat, das keine Wellen der Gleichgültigkeit durch ganz Europa senden wird. Es ist ein "normaleres" Deutschland, mit Problemen, die andere auch haben. Das ist ein Problem für alle. Der Anker ist weniger stark.

Figaro

(Paris) Angela Merkel hatte geglaubt, der Zuspruch der AfD würde abebben, wenn erst einmal die Flüchtlingskrise beendet sei. Der Flüchtlingsstrom ist drastisch zurückgegangen, aber die radikale Rechte hat sich etabliert. Für lange Zeit dürfte sie nicht aus der deutschen Politiklandschaft verschwinden.

Rzeczpospolita

(Warschau) Es ist schwierig, einen wichtigeren Bezugspunkt in der polnischen Außenpolitik zu finden als Deutschland. Das Land ist stabil, berechenbar, verantwortungsbewusst und zweifelsohne freundlich. Können die Wahlen daran etwas ändern? Ich denke, nicht. Unabhängig davon, welchen Koalitionspartner Angela Merkel wählt, bleibt Deutschland der wichtigste Staat der EU, ihre wichtigste Wirtschaft und ein Stabilisator der Politik in unserem Teil der Welt.

Magyar Idök

(Budapest) Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges und 70 Jahre nach Ende des zweiten Weltbrandes gibt es wieder eine deutsche Dominanz, obwohl Europa genau das verhindern wollte. Unseren Kontinent regiert heute die deutsche Industrie, das chinesische Kapital, die amerikanische Ideologie und – wenn auch immer weniger – das russische Gas. Die Gegenpole Deutschlands – Großbritannien und Frankreich – haben ihre Autorität verloren. Unser aller Schicksal hängt eigentlich von einem einzigen Menschen ab. Sein Name: Angela Merkel.

SME

(Bratislava) Als Angela Merkel 2015 Deutschlands Türen für Flüchtlinge geöffnet hatte, sagten ihre Kritiker voraus, diese Umarmungen würden ihr das Genick brechen. Wie sich jetzt zeigt, ist diese Vorhersage nicht eingetroffen. Merkel ist Wahlsiegerin und bleibt an der Macht. Und Europa ist ihr für diesen Sieg dankbar. Denn wenn in Deutschland die demokratischen Kräfte grundlegender geschwächt würden, als es jetzt geschehen ist, dann würde das für Europa eine Erschütterung bringen, die auf der Skala mindestens auf der Stärke des Brexits einzuordnen wäre.

Wall Street Journal

(New York) Dies ist eine sehr deutsche Protestwahl: eine gefahrlose. Und Umfragen übermittelten Wählern die beruhigende Botschaft, dass sie für die AfD stimmen konnten, ohne der Partei wirkliche Macht zu verleihen. Die Botschaft ist, dass die Deutschen Wettbewerb wollen. Diese Wahl ist keine Zeitenwende. Frau Merkels ideenlose Kontrolle über die deutsche Politik ist immer noch stark. Aber in Deutschland dämmert die Merkel-Ära nun ihrem Ende entgegen – man kann es die Merkeldämmerung nennen. (pra, 25.9.2017)