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Paris 1968: Lefebvres "Recht auf Stadt" war Tagungsthema.

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Wien – Revolution? Nicht gerade etwas, was der österreichischen Seele besonders nahe liegt. Auch diese Anmerkung fehlte nicht im Laufe des dreitägigen Vienna Humanities Festival, welches am vergangenen Wochenende zum zweiten Mal stattfand und unter ebendiesem Leitthema der "Revolution" stand. Das vom Wien-Museum, dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und dem European Network of Houses for Debate "Time to Talk" veranstaltete Festival bot 40 jeweils einstündige Zweier- und Dreiergespräche in dichter Abfolge. Eröffnet wurde es am Freitag von Bundespräsident a. D. Heinz Fischer, der im Gespräch mit STANDARD-Chefredakteur Rainer Schüller über das historische Gleichgewicht zwischen langsamer Evolution und abruptem Umsturz sinnierte. Mit rund 3600 Besuchern verzeichnete das Festival ein deutliches Plus gegenüber 2016 (mit rund 3000 Besuchern).

Direkte Demokratie kein ideales Mittel

Die Definition revolutionärer Aspekte erwies sich dabei als erwartungsgemäß breit gefächert. Heide Schmidt, die den Sonntag mit einem Gespräch zum Thema "Tugenden des Dissenses" eröffnete, erinnerte sich an ihren Beitritt zur FPÖ als "Akt des Dagegenseins" in Zeiten, als sich 90 Prozent der Österreicher den beiden Großparteien zugehörig fühlten. Ihr Austritt wiederum sei die Reaktion auf einen Tabubruch des Ausländervolksbegehrens gewesen: "Hier habe ich nicht nur nichts verloren, sondern hier muss ich etwas entgegensetzen." Zur Frage, ob ein Mehr an direkter Demokratie ein ideales Mittel für konstruktiven Dissens sei, äußerte sie sich zweifelnd: Direkte Demokratie brauche Vorarbeit auf gesamtgesellschaftlicher Breite, da sie vor allem von gebildeteren Schichten wahrgenommen würde.

In anderen Politikdebatten boten die unruhiger gewordenen globalen Zustände den Nährboden für Diskurse über Rebellionen von unten und Revolutionen von oben, oder das Ausbleiben von beidem. Der Türkei-Experte Cengiz Günay sprach mit STANDARD-Chef-vom-Dienst Eric Frey über Erdogans Revolution, und auch die ukrainischen Proteste auf dem Maidan in Kiew und der Arabische Frühling wurden seziert. Die großen Revolutionsjahre der Vergangenheit – 1789, 1848, 1918/19 und Ungarn 1956 – spannten den Rahmen im historischen Resonanzraum auf.

Heide Schmidt war nicht die Einzige, die den Begriff der Dissenskultur zur Sprache brachte, auch die Raumplanerin Sabine Knierbein, Professorin für Stadtkultur und öffentlichen Raum an der TU Wien, forderte im Panel "Urban Emancipation" mehr Mut zum Aushalten des Dissenses in der Stadtplanung und in den Bürgerbeteiligungsprozessen der Stadtentwicklung.

"Recht auf Stadt"

Ein Faden, den das direkt folgende Gespräch nahtlos aufnahm: Christian Schmid, Professor an der ETH Zürich, erklärte im Gespräch mit Elke Rauth vom Urbanismus-Magazin "Dérive" engagiert und nachdrücklich das vom französischen Philosophen Henri Lefebvre postulierte "Recht auf Stadt", ein aus Lefebvres zentraler Rolle im Revolutionsjahr des Pariser Mai 1968 gespeistes Manifest der Selbstermächtigung, das in den letzten Jahren von Stadtplanern als Handlungsanleitung gegen den Neoliberalismus wiederentdeckt wurde. Andreas Nierhaus, Kurator am Wien-Museum, kündigte für den kommenden März die große Ausstellung zum 100. Todestag von Otto Wagner an, die revolutionären und evolutionären Aspekte seiner Architektur wurden beim Festival schon vorab seziert. Fazit: Der Konstrukteur der Stadtbahn war zwar als Person kein lupenreiner Revolutionär, aber ein kongenialer Vollstrecker der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts.

Die Rebellion innerhalb der digitalen Revolution, als Selbstbehauptung gegen die Auswüchse von Big Data war das Thema beim Dialog "Kämpf um deine Daten" zwischen dem Juristen und Aktivisten Max Schrems und Shalini Randeria, Rektorin des IWM. Die Suche nach der Wahrheit in Zeiten der gezielten Desinformation darf man getrost als Akt des Widerstands in Zeiten der Datenflut sehen. Simon Hadler, leitender Kulturredakteur bei orf.at, erklärte anlässlich seines Buches "Wirklich wahr! Die Welt zwischen Fakt und Fake", wie wir souverän mit diesen Daten umgehen können. (red, 28.9.2017)