Der Urgeschichtler Josef Bayer (in Weiß) am 7. August 1908 an jener Stelle, wo an diesem Tag die Venus von Willendorf gefunden wurde.
Foto: Naturhistorisches Museum Wien

Wien – Diesen Übergriff auf seinen wissenschaftlichen Wirkungsbereich konnte sich Josef Bayer schlecht gefallen lassen. Der renommierte Prähistoriker, der 1908 als junger Postdoktorand die Venus von Willendorf mitentdeckte, war seit 1918 Direktor der prähistorischen und anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums (NHM) Wien und als solcher für die ethnografische und die prähistorische Sammlung verantwortlich. Diese Zuständigkeit Bayers sollte mit einem Schlag halbiert werden.

Die Initiative dafür kam noch dazu nicht einmal aus dem NHM Wien, sondern von außen: Elf Professoren der Uni Wien – durchwegs bekennende Deutschnationale – ließen im Juni 1924 eine Sitzung im Unterrichtsministerium einberufen und forderten dort, dass Bayer die ethnografische Sammlung abgeben müsse. Der Minister stimmte dieser Entmachtung über den Kopf Bayers und seiner NHM-Kollegen hinweg zu.

Politische Hintergründe

Kein Wunder, dass sich der Prähistoriker zur Wehr setzte. Er richtete zunächst eine Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof und ergriff noch eine andere Maßnahme: Er ging mit seinen Vorwürfen an die Presse. Zwar machten die Professoren "rein wissenschaftliche" Gründe für die Trennung der Sammlungen geltend. Für Bayer steckten aber bloß politische Motive dahinter: Zum einen sollte ein Forscher, der den Professoren nahestand, die Leitung der ethnografischen Sammlung erhalten. (Diese wurde dann übrigens als Völkerkundemuseum ausgegliedert, das seit einigen Jahren Weltmuseum heißt und bald wiedereröffnet wird.)

Zum anderen hatte Bayer den Anatomen Julius Tandler – einen Sozialdemokraten jüdischer Herkunft – kurz zuvor zum beratenden Mitglied des von ihm am NHM gegründeten Instituts für Rassen- und Konstitutionsanthropologie gemacht, was von der nationalsozialistischen Deutschösterreichischen Tages-Zeitung, dem Sprachrohr der rechten Professoren, heftig kritisiert wurde.

So wurde anno 1924 (!) in der Nazi-Presse gegen Bayer und Tandler argumentiert: Die Rassenkunde sei, so wie die Interpretation rein germanischer Literatur den Juden zu versperren. (Bayer war übrigens nicht jüdischer Herkunft.)
Foto: Klaus Taschwer

Öffentlicher Widerstand

Dass sich Bayer seinerseits in der Presse zu Wehr setzte, war ein gewagter Schritt in Zeiten, in denen die Uni Wien immer weiter nach rechts abdriftete: So zirkulierten im Frühjahr 1924 "gelbe Listen" mit den Namen "jüdischer" Lehrender (wie des konvertierten Julius Tandler), deren Vorlesungen gemieden oder gestört werden sollten. Und einigen bestens qualifizierten Forschern war im Studienjahr 1923/24 die Habilitation verweigert worden, weil sie jüdischer Herkunft oder sozialdemokratischer Gesinnung waren (offiziell wurden meist andere Gründe geltend gemacht).

Bayer ahnte, dass einige jener antisemitischen Professoren, die für diese Diskriminierungen verantwortlich waren, auch hinter der Intrige gegen ihn standen. Um etwas dagegen zu tun, gab Bayer diese Informationen im Juli 1924 an Journalisten weiter. In deren Berichten war dann von "Cliquenwirtschaft an der Wiener Universität" die Rede oder von "Hakenkreuzprofessoren", die aus rein politischen Gründen für eine Trennung seiner Abteilung eintraten. (Das Hakenkreuz war damals noch kein eindeutiges Symbol der Nationalsozialisten, sondern stand etwas allgemeiner für extrem rechte, nationalistische und antisemitische Gruppen.)

Ausschnitt aus einem der Zeitungsartikel, die über den Fall berichteten.
Foto: Klaus Taschwer

Die Professoren würden laut Bayer zudem der "Deutschen Gesellschaft" in Wien nahestehen, die eine "rein antisemitische Propaganda" entfalte und an der Universität eine "herrschende Stellung" einnähme.

Rechtsvorschriften der Uni Wien

Das dem tatsächlich so war, sollte Bayer bald selbst zu spüren bekommen, wie die Rechtshistorikerin Kamila Staudigl-Ciechowicz in einem neuen Buch rekonstruiert hat. In der über 800-seitigen Monografie geht es freilich nicht nur um den Fall Bayer: Die Studie, die ursprünglich als Dissertation eingereicht wurde, befasst sich in der ersten Hälfte erstmals im Detail mit dem Dienst-, Habilitations- und Disziplinarrecht der Universität Wien zwischen 1848 und 1938.

Die Rechtshistorikerin Kamila Staudigl-Ciechowicz hat ein Standardwerk zur Rechtsgeschichte der Uni Wien vorgelegt und den Fall Josef Bayer wiederentdeckt und rekonstruiert.
privat

Die Autorin zeichnet auch nach, wie sich die Rechtsvorschriften im Laufe der Zeit wandelten. Besonders drastisch waren die Änderungen im Jahr 1934/35, um dem Dollfuß-Schuschnigg-Regime den Durchgriff auf die Hochschulen zu ermöglichen. "Mit diesen neuen Gesetzen wurde dann freilich nach dem März 1938 auch für viele Maßnahmen der Nationalsozialisten der Weg geebnet", erklärt Staudigl-Ciechowicz im Gespräch mit dem STANDARD.

Mehr als 150 andere Fälle

In der zweiten Hälfte ihrer Studie, die das Zeug zum künftigen Standardwerk hat, rekonstruiert Staudigl-Ciechowicz dann mehr als 150 Disziplinaranzeigen, die auf Basis dieser Rechtsgrundlagen von der Uni selbst behandelt und von deren Disziplinarkommission entschieden wurden.

Dadurch entsteht nicht nur ein eindrucksvolles Sittenbild der Universität im Wandel der Zeit; die Fallstudien bieten ein einzigartiges Material, um die Institution Universität und ihre politischen Netzwerke insbesondere der Zwischenkriegszeit besser zu verstehen. Der erstmals im Detail rekonstruierte Fall von Josef Bayer bietet dabei ganz besonders tiefe Einsichten.

Verstöße gegen den Anstand

In den meisten der Disziplinarverfahren ging es um die Frage des standesgemäßen Verhaltens von Hochschulangehörigen im öffentlichen wie auch im privaten Bereich. So wurden nicht wenige Verfahren gegen Unilehrer wegen privater Verfehlungen – etwa wegen Vergehen gegen die "Sittlichkeit" – angestrengt. Nicht selten landeten auch Feindseligkeiten zwischen Lehrkräften vor der Disziplinarkommission. Öffentliche Kritik an der Universität, wie sie der Universitätsdozent Bayer 1924 äußerte, wurde ebenfalls fast immer geahndet.

Ganz in diesem Sinne wurde unmittelbar nach Erscheinen der Artikel über den Fall Bayer 1924 in allen führenden Zeitungen Wiens von den darin namentlich genannten Professoren wie Othenio Abel, Viktor Christian, Hermann Junker, Oswald Menghin oder Rudolf Much – allesamt führende Antisemiten der Uni Wien – ein Disziplinarverfahren gegen Bayer angestrengt.

Rufschädigung der Uni Wien

Mitte Mai 1925 kam es dann nach der mündlichen Verhandlung zum Urteil im Sinne der Anklage: Bayer habe die Tagespresse falsch informiert; es sei zu schweren Angriffen gegen Universitätslehrer gekommen, was wiederum das Ansehen der Universität schwer geschädigt habe. Das Urteil, das wenig später vom Akademischen Senat bestätigt wurde, dem höchsten Gremium der Universität, war hart: Entzug der Lehrbefugnis auf Lebenszeit.

Dagegen legte Bayer seinerseits Rekurs im Unterrichtsministerium ein, das dem Urteil der Universität im August 1927 weitgehend zustimmte. Es entzog Bayer die Lehrbefugnis, jedoch "nur" für drei Jahre. Der renommierte Prähistoriker hatte davon allerdings nicht mehr viel: Er starb im Juli 1931 mit gerade einmal 49 Jahren. Doch selbst nach Bayers Tod ging die Rache der Professoren weiter: Im Nachruf der Uni wurde unter anderem der Satz ersatzlos gestrichen, dass Bayer Mitentdecker der Venus von Willendorf war.

Der Entwurf des Nachrufs der Uni Wien auf Josef Bayer. Zwei seiner wichtigsten Entdeckungen wurden einfach gestrichen und fehlten in der Druckfassung.
Foto: Klaus Taschwer

Nicht ganz unberechtigte Vorwürfe

Wie Staudigl-Ciechowicz rekonstruiert, waren Bayers ursprüngliche Vorwürfe durchaus berechtigt: Zwar irrte er mit der Bezeichnung "Deutsche Gesellschaft", die in Wahrheit "Deutsche Gemeinschaft" hieß. In einer Sitzung dieses antisemitischen Geheimbunds im Dezember 1925, die von der Autorin genau dokumentiert wird, wurde sogar eine richtiggehende "Hexenjagd" gegen Bayer organisiert, der an allen möglichen Stellen diffamiert werden sollte. Wortführer bei diesem Geheimtreffen war der Ägyptologe Wilhelm Czermak, Mitglied der antisemitischen Professorenclique "Bärenhöhle, aber auch der CV-Verbindung Bajuvaria (Couleurname Cheops) und des Deutschen Klubs.

Auch mit der Bezeichnung "Hakenkreuzprofessoren" für seine Widersacher war Bayer durchaus prophetisch: Othenio Abel etwa wurde 1934 wegen seiner NS-Sympathien frühpensioniert; das SS-Mitglied Viktor Christian stieg nach dem "Anschluss" unter anderem zum Dekan der Philosophischen Fakultät auf. Und Oswald Menghin, der vermutlich für die nachträgliche Entehrung in Bayers Nachruf sorgte, wurde kurzzeitig Unterrichtsminister. (Klaus Taschwer, 28.9.2017)