Für die Arbeit in der Pflege ist ein Strafregisterauszug vorzulegen. Sollte gerade ein Verfahren laufen, ist dieses nicht darin vermerkt.

Foto: Elmar Gubisch
Grafik: Standard/APA/Hauptverband

Wien / St. Pölten Es sind Schilderungen menschenunwürdiger Abwertungen und massiver, auch sexueller Misshandlungen der Heimbewohner durch Pfleger: Alte, hilflose, schwer demente Patientinnen der Abteilung St. Anna im Pflegeheim Clementinum im niederösterreichischen Kirchstetten – einem Haus der Barmherzigkeit – seien als "Drecksau" und "Drecksfut" bezeichnet worden, schreibt die Zeitung "Falter".

Eine Insassin der 40-Patienten-Abteilung, in dem Artikel "Frau H." genannt, sei wiederholt "zur Begrüßung geohrfeigt" worden. Anschließend habe man sie wie eine Reihe anderer betagter, aufgrund ihrer Demenz behinderter Bewohnerinnen und Bewohner auch einer "Aromatherapie" unterzogen: dem Einmassieren von Franzbranntwein direkt in die Geschlechtsteile.

Speiseöl ins Sondensackerl

Patient "Berti H." wiederum, der per Magensonde ernährt werden musste, sei von den verdächtigten Pflegern "mit der Faust wuchtig in den Bauch geschlagen worden". Als er "Stuhlprobleme" gehabt habe, sei ihn "von den Pflegern Speiseöl in den Mund oder ins Sondensackerl geleert" worden. Dabei hätten die Pfleger ihn ordinär beschimpft.

Nach der Festnahme von zwei Pflegern, die in einem Heim in Kirchstetten demente Patienten gequält haben sollen, stellt sich die Frage, wieso die beiden trotz der Ermittlungen in einem Wiener Heim weiter arbeiten konnten. Beitrag aus der ZiB2 am Mittwoch.
ORF

Ergänzt werden diese und weitere Details aus der internen Dokumentation des Kirchstettener Hauses der Barmherzigkeit, das dem Falter Einblick gegeben hatte, durch Auszüge aus den Protokollen der kriminalpolizeilichen Vernehmungen. Laut diesen gab es eine, offenbar vom hauptverdächtigen Pfleger Dominik G. gegründete Whatsapp-Chat-Gruppe. "Mich toppt nur die ehrwürdige Schwester Waltraud von Lainz, hahahaha" habe G. dort etwa getextet. Die Krankenschwester Waltraud Wagner hatte gemeinsam mit anderen Schwestern zwischen 1983 und 1989 im Wiener Krankenhaus Lainz eine größere Zahl Pflegebedürftiger ermordet.

Einvernahmen im Oktober

Die kriminalpolizeilichen Einvernahmen im Kirchstetten-Fall fanden im Oktober 2016 statt, nachdem ein unter Berufung auf die Volksanwaltschaft produzierter ORF-Bericht den Skandal erstmals an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Befragt wurden dabei auch mehrere Pflegehelferinnen und Putzfrauen. Sie sagten aus, manche Misshandlung miterlebt zu haben, sich jedoch nicht getraut zu haben, dies der Heimleitung zu melden.

Für die Verdächtigen gilt die Unschuldsvermutung. Sie bestreiten die Vorwürfe und sprechen laut der ermittelnden St. Pöltner Staatsanwaltschaft von Verleumdung.

Zwei Festnahmen

Mittwochnachmittag wurden zwei der fünf Verdächtigen wegen Tatbegehungsgefahr festgenommen, über U-Haft soll bis Donnerstag entschieden werden. Die Begründung dafür: Nach ihrer fristlosen Entlassung in Kirchstetten hatten sie bis vor wenigen Tagen erneut in einem Pflegeheim Arbeit gefunden, diesmal in einer ordensnahen Einrichtung Wien. Von den laufenden Ermittlungen sei ihr neuer Dienstgeber informiert gewesen, sagte ihr Anwalt Stefan Gloß. In besagtem Pflegeheim wurde dem Standard auf Befragen mitgeteilt, dass "keine Auskünfte" gegeben würden.

Wie ist es möglich, dass Pfleger, die unter einem solchen Verdacht stehen, wieder in der Altenbetreuung unterkommen? Zwar läuft gegen sie ein strafrechtliches Verfahren, auf einem Strafregisterauszug ist ein solcher Vorgang aber nicht ersichtlich. Der niederösterreichische Pflege- und Patientenanwalt Gerald Bachinger, zugleich Sprecher der Patientenanwälte in Österreich, sieht hier "ganz dringenden legistischen Handlungsbedarf".

"Nicht vertrauenswürdig"

Aktuell gelten laut Gesetz Pflegebedienstete erst dann "als nicht vertrauenswürdig", wenn sie zu einer mehr als einjährigen Strafe verurteilt wurden und gleichzeitig aufgrund der Art einer Straftat und der Persönlichkeit des Verurteilten die "Begehung der gleichen oder einer ähnlichen strafbaren Handlung zu befürchten ist". "Es kann nicht sein, dass der Datenschutz höher eingeschätzt wird als die Sicherheit der Heimbewohner", empört sich Bachinger. Auch der Chef des Fonds Soziales Wien, Peter Hacker, fordert die raschere Weitergabe von derlei Wissen. Bachinger will ein zusätzliches Register beim Sozialministerium – mit Informationen der Staatsanwaltschaften über laufende Verfahren.

Laut dem Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk ist das auch angesichts der im Verfahren bestehenden Unschuldsvermutung möglich. Was für Anwälte gelte, die im Verdacht stehen, Klientengelder veruntreut zu haben, sei auch in der Pflege anwendbar: "In dieser Hinsicht ist die Unschuldsvermutung kein absolutes Recht".

Konkretes Wissen über die Zustände in Österreichs Pflegeheimen gibt es bei der Volksanwaltschaft. Im Zuge ihrer präventiven Menschenrechtskontrolle besuchen ihre Kommissionen unangekündigt Orte, an denen Menschen in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, von Gefängnissen über Psychiatrien bis zu Altenheimen.

80 Stürze, meist nachts

Im Volksanwaltschaftsbericht 2016 kommt der Verdacht "in einem Pflegeheim in NÖ" – gemeint ist Kirchstetten – ebenso vor wie zum Beispiel unhaltbare Zustände in einer "steirischen Einrichtung" mit 35 psychiatrisch diagnostizierten Patienten. Dort hätten binnen weniger Monate die gesamte Führung sowie 80 Prozent der Mitarbeitenden gewechselt. Die Folgen: "Zahlreiche gesundheitliche Komplikationen" bei den Patienten sowie 80 Stürze zwischen Jänner und Oktober "vorwiegend in der Nacht".

Laut dem Volksanwalt Günther Kräuter unterstreichen derlei Fälle "die Notwendigkeit funktionierender Gewaltprävention" in den Einrichtungen. Das Um und Auf sei Kommunikation, von der Pflegeheimleitung mit dem Personal und mit den Patienten. Als Reaktion auf den Skandal im April 2017 führte die niederösterreichische Patienten- und Pflegeanwaltschaft eine neue Form des Monitorings ein.

Im Pflegeheimbereich insgesamt diagnostiziert Kräuter "ein Strukturproblem". In jedem Bundesland existierten andere Vorgaben, was zu "Riesenungerechtigkeiten" führe. So gibt es etwa das Recht von Pflegeheimbewohnern auf Beschwerde bei den Betreibern nur in fünf Bundesländern: Wien, Niederösterreich, Burgenland, Steiermark, Kärnten. In den anderen nicht. (Irene Brickner, Gudrun Springer, 27.9.2017)