Wir kommen nach einer von der Asfinag erzwungenen Erklimmung des Arlbergpasses hinunter in den Walgau, passieren Bludenz und biegen bei Ludesch ins Große Walsertal ab. Die Abzweigung ist nicht nur ein straßenverkehrstechnischer Hinweis, sie ist auch ein Hineinfahren in eine andere Sphäre, in ein Turner’sches Gemälde. Die Steile der Hänge, an denen die Häuser haften wie an einer Pinnwand, von der sie beinahe nach vornüber kippen; die Enge des Tales, das sich permanent ändernde Licht und die plötzlich entstehenden lokalen Wolkenfetzen geben diesem eine atemberaubende expressive Dramatik. Schließlich erreichen wir Sonntag, unsere Vorarlberger Mittelpunktsgemeinde, die sich im hinteren Tal befindet.

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Wir beziehen das Ferienhaus Rinderer mit seinen üppigen rosafarbenen Balkongeranien, oberhalb des Biosphärenparkhauses an einem steilen Hang gelegen. Daneben eine weitläufige Wiese, unbebaut. Das war nicht immer so, wie uns später der Senn Wilfried erzählt.

Geschichten von der Arbeit auf der Alm und dem Lawinenunglück von 1954: Senn Wilfried
Foto: toxic dreams

Er weist uns in die Kunst des Käsens ein. Aus 110 Liter Milch machen wir mit seiner Hilfe einen zehn Kilogramm schweren Walser Käse-Laib. Ein eher undramatisches Tun, besteht es doch im Wesentlichen aus stundenlangem Rühren mit einem menschengroßen Rührbesen.

Isabella-Nora Händler singt beim Rühren ein Seemannslied
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Weil wir beim Käsemachen viel Zeit zum Reden haben, stellen wir Wilfried Fragen über das Tal, das Leben in dieser Landschaft, seinen hörbar schweizerisch gefärbten Walser Dialekt, die Leute und, ja, die Lawine. Bis zum Jänner 1954 stand auf der Wiese neben unserer Unterkunft ein Haus, in dem eine sechsköpfige Familie wohnte. Als die Lawine kam, erzählt uns Wilfried, riß sie den Vater im Stall und das untere Stockwerk des Hauses mit drei der vier Kinder darin mit sich. Im oberen verräumte die Mutter mit dem jüngsten im Arm gerade die Weihnachtskrippe, beide überlebten schwer verletzt. Unter dem Angriff des weißen Monsters Schnee starben an zwei Tagen um die hundert Leute in der Region.

Der Schnee als schlummernder Leviathan

Im folgenden Frühling fand der damals vierjährige Wilfried ein paar Krippenfiguren unterhalb der unserem Quartier benachbarten Wiese und nahm sie mit nach Hause, wo sie noch heute ihren Platz haben. Auch an anderen Orten im Walsertal gibt es Reminiszenzen an diese Lawinenkatastrophe, das Ereignis ist wohl dokumentiert – zum Beispiel im Lawinendokumentationszentrum im Gemeindezentrum von Blons.

Für unsere Crew ist die Lawine eine ganz reale Materialisierung der Melville’schen Fiktion – der aus den Tiefen aufgetauchte, lange schlummernde, furchtsam erahnte, kaum je gesichtete Leviathan; eine wilde, unbezähmbare, gefährliche Natur; der negierende Geist, die dunkle Seite des Turner’schen Gemäldes, der die "Crew" an "Bord" des Tales gnaden- und unterschiedslos mitriss in die Tiefe.

Die überlebenden Ismaels an Bord des Großes Walsertals aber haben die Geschichte weitererzählt. Sie haben die abgeholzten Wälder wieder aufgeforstet; die Lawinenverbauung wurde in der Folge (übrigens weltweit) professionalisiert. Heute steht das Große Walsertal für nachhaltiges Wirtschaften im Einklang mit Landschaft und Natur. Denn der Wal, wenn man so will, nährt auch.

Unterstützt von Wilfried holt Yosi Wanunu den Käse aus der Molke
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Dass die Milch, die wir zu Beginn unserer Käseproduktion mit Wilfrieds Hilfe im Kupferkessel erwärmten, auch schneeweiß war, wollen wir jetzt einmal nicht überinterpretieren, ging es uns beim Käsen doch um einen anderen Aspekt von Moby Dick: Wir wollten wenigstens in Ansätzen so aussehen wie die Crew eines Walfangschiffs beim Zerlegen eines erlegten Tiers. Dieser Wunsch war allerdings – ob des gemächlichen Tempos – einigermaßen verfehlt. Für eine Inszenierung von "Warten auf Godot" können wir das Käsen als Haupthandlung absolut empfehlen, selbst verfielen wir hingegen darauf, beim Rühren jene Walfanglieder anzustimmen, die auf der Reise Teil unseres Projekts geworden waren.

Zehn Kilo Käse in der schon vorbereiteten Form kurz vor dem Pressen
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Der zehn Kilo schwere Laib wird uns nach einer dreimonatigen Reifezeit nach Wien nachgeschickt werden. Vor Ort gab’s nebst Wurst aus der Region und Wilfrieds eigenem Almkäse zum Abendessen den im selben Haus hergestellten Walserstolz. Gegessen haben wir dann doch mit gerade einem solchen Appetit, als hätten wir soeben einen Wal gefangen.

Eindeutig uneindeutig

Ach so. Hat jemand nach dem Mittelpunkt Vorarlbergs gefragt? – Nun, wir haben auch viel recherchiert, aber keine eindeutige Antwort erhalten. Oder anders: Wir haben die eindeutige Antwort erhalten, dass es keine eindeutige Antwort gibt. Jener Teil der Grenze zwischen Österreich und der Schweiz, der durch den Bodensee verläuft, ist nämlich nicht klar definiert. Je nachdem, wo die Grenze genau angenommen wird, ergibt sich ein anderer geografischer Mittelpunkt des Bundeslands; allerdings sehr wohl jeweils innerhalb der Gemeindegrenzen von Sonntag.

Seilziehen der Physik-Giganten: Stephen Hawking vs. ...
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Dass das Große Walsertal in der Mitte Vorarlbergs liegt, wissen hier übrigens schon die jungen EinwohnerInnen. Monika aus dem Biosphärenpark-Management erzählte uns, dass sie als Kind in der Schule eine – wie üblich mehrfach gefaltete – Landkarte Vorarlbergs bekommen hatte; und wenn sie sie auffaltete, lag im Kreuzungspunkt aller Faltungen das Walsertal.

... vs. Albert Einstein! Ein Ringen um den geografischen Mittelpunkt Vorarlbergs
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Performativ haben wir die Mittelpunktsunschärfe für unser Landungsritual an zwei Giganten der Physik übergeben: Mit Stephen Hawking ging’s den Hang hinan in den Wald oberhalb des Ortszentrums; Albert Einstein verteidigte "seine" Messung zwischen Kirche und Kindergarten. Vielleicht hätten wir Vorarlberg auch mit Deleuze und Guattari oder Thelma und Louise beikommen können – aber finden Sie einmal so schöne Masken von den Poststrukturalisten oder den Hollywood-Ikonen, wie wir sie von den beiden Physikern hatten… (Kornelia Kilga, Michael Strohmann, Yosi Wanunu, Markus Zett, 28.9.2017)