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Sirenen zu hören ist für Jaqueline Scheiber das Schlimmste in ihrem Job. Sie bekommt Angstzustände, kann nicht mehr atmen und nicht mehr klar denken. Zu sehr erinnert sie das Geräusch an den Tag vor etwas mehr als einem Jahr, an dem sie neben ihrem reglosen Freund Felix, 28, erwachte. Notarzt, Krankenhaus und dort die Gewissheit, dass Felix nicht mehr lebt. Noch heute wirke das alles surreal. Auch warum Scheiber wenige Augenblicke später an ihrem Arbeitsplatz auftauchte, kann sie nicht genau erklären. "Ich hatte an dem Tag Dienst. Nicht hinzufahren kam mir gar nicht in den Sinn." Und so ging es vom Krankenhaus direkt an den Arbeitsplatz – einen gemeinnützigen Sozialbetrieb der Stadt Wien, wo Scheiber neben ihrem Studium 20 Stunden pro Woche arbeitete. Vor wenigen Wochen hatte sie dort ihren letzten Arbeitstag, mit Abschluss des Studiums beginnt sie nun mit einem neuen Job.

Ihre Trauer verarbeitet Scheiber auch auf Social Media und in ihrem Blog. Auf ihrem Instagram-Profil "minusgold" verfolgen rund 15.000 Menschen ihre Bilder, Texte und Gedanken – auch dazu, wie hilfreich ihr Arbeitsumfeld in den schwersten Monaten ihres Lebens war. Ganz allgemein ist es ihr ein Anliegen, den Tod und die Trauer in die Öffentlichkeit zu holen, darüber zu sprechen, worüber sonst gerne geschwiegen wird.

Damals, im August 2016, weinend und sichtlich unter Schock an ihrem Arbeitsplatz angekommen, führt sie ihre Chefin sofort in einen kleinen Raum. Scheiber entschuldigt sich noch dafür, dass sie zu spät ist, bevor sie unter Tränen schildert, was Stunden zuvor passiert ist. Wie Führungskräfte und Kollegen an ihrem Arbeitsplatz in diesem Moment reagierten, sollte sich auch im kommenden Jahr nicht ändern: mit Unterstützung und Verständnis. "Es wurde jemand organisiert, der mich abholt, und mir wurde versichert, dass ich mich um gar nichts kümmern muss, was die Arbeit betrifft." Ihre Dienste wurden an andere vergeben, der Schreibtisch aufgeräumt, und auch in den folgenden Monaten wusste die 24-Jährige, dass im Arbeitsumfeld genügend Rücksicht da ist, wenn es ihr wieder schlechter geht, sie eine Panikattacke überkommt oder einfach nur jemanden zum Reden braucht. Wenn wegen eines Notfalls die Rettung gerufen werden muss, warnen sie ihre Arbeitskollegen vor. Scheiber kann dann in einen anderen Raum gehen, wo sie die Sirenen nicht hören muss.

Schweigen als einfachste Lösung

Wie an österreichischen Arbeitsplätzen mit Tod und Trauer umgegangen wird, ist höchst unterschiedlich. Untersuchungen gibt es keine zu dem Thema. "Generell ist Trauerforschung in Österreich ein vernachlässigter Bereich", sagt Thomas Geldmacher. Gemeinsam mit seiner Frau Daniela Musiol, ehemalige Klubdirektorin der Grünen im Wiener Rathaus und bis 2016 Nationalratsabgeordnete, unterstützt er Menschen, die Trauerfälle zu bewältigen haben, wendet sich aber auch an Personen, die mit Trauernden zusammenleben oder zusammenarbeiten. Insbesondere richten sich Geldmacher und Musiol mit ihrer "Rundumberatung" aber an Organisationen und Unternehmen, die mit Fällen von Tod und Trauer am Arbeitsplatz sensibel umgehen wollen. Ihr Befund: "Der notwendige Umgang mit Trauer fehlt in Österreich." Das wirke sich natürlich auf das Arbeitsklima aus, auf die Zufriedenheit der Mitarbeiter. Und dann ist da auch die wirtschaftliche Komponente, an die man denken müsse: Trauer kostet immer – entweder weil betroffene Personen in den Krankenstand gehen beziehungsweise nicht da sind oder weil sie in der Arbeit sitzen, aber nicht wirklich anwesend sind. Letzteres sei mittlerweile häufiger der Fall, sagt Geldmacher. "Die Leute gehen heute tendenziell ziemlich früh wieder arbeiten. Schließlich hängt das Damoklesschwert der Kündigung über einem."

Theresa L. (Name geändert) kennt das Gefühl des Nicht-wirklich-anwesend-Seins. Auch sie hat ihren Freund verloren, zwei Jahre lang lebte er mit der Diagnose Krebs. Jenes Verständnis, das Scheiber die Rückkehr in den Job erleichterte, fehlte bei ihr gänzlich. Stattdessen wurde geschwiegen. Motto: "Business as usual". Weil L. heute noch im Unternehmen arbeitet, soll ihr Name hier nicht genannt werden. "Ich musste schauen, dass ich funktioniere, dass ich blende. Ich kann nicht sagen, wie weit es akzeptiert worden wäre, wenn ich einen ganzen Vormittag nur dagesessen wäre, ohne dass etwas vorwärts geht. Ich glaube, das hätte jeder verstanden, aber es wurde nie angesprochen." Natürlich gab es viele solche Tage, Momente, in denen sie auf die Toilette ging, um zu weinen. Der Todesfall und ihre Trauer seien dann aber relativ schnell kein Thema mehr gewesen – weder Vorgesetzte noch Kolleginnen und Kollegen erkundigten sich, wie es ihr geht. Für die junge Wienerin war das belastend: "Man ist nicht mehr nur Mitarbeiterin oder Kollegin, sondern das Gesamtpaket Mensch in so einer Situation. Es wird verlangt, dass man die Trauer vor der Tür lässt, aber das ist nicht möglich."

Enorme Kommunikationsaufgabe

Todesfälle im Unternehmen oder im Umfeld von Mitarbeitern seien für Führungskräfte und Arbeitskollegen zunächst eine riesige Kommunikationsaufgabe, sagt Daniela Musiol. "Die übernehmen wir teilweise, etwa wenn die Geschäftsführung selber sehr betroffen ist." Den Betroffenen aus dem Weg zu gehen, den Elefanten im Raum nicht anzusprechen sei für viele die einfachste Lösung. Das führt laut den Experten zu zwei Problemen: Einerseits entstünden Vermutungen, Annahmen und Mutmaßungen, diese "stille Post" sorge wiederum für schlimme Gerüchte. Andererseits sei das Schweigen für die trauernden Mitarbeiter ein Schlag ins Gesicht. Den beschrieb auch Facebook-Chefin Sheryl Sandberg in ihrem Buch, das sie nach dem Tod ihres Ehemanns schrieb: "Vielen meiner Kollegen stand die Angst ins Gesicht geschrieben, wenn ich mich ihnen genähert habe." Geldmacher kennt das Phänomen: "Man hat beinahe das Gefühl, Trauer wäre ansteckend."

"Als die Menschen über den Tod meines Mannes geschwiegen haben, statt mit mir darüber zu sprechen, fühlte sich das wie ein riesiger Elefant im Raum an", erzählt Sheryl Sandberg.
Good Morning America

Auch Scheiber und L. wurde mit Sprachlosigkeit begegnet. "Es ist erstaunlich, wie unterbelichtet das Thema Tod in unserer Gesellschaft ist, obwohl ja jeder stirbt. Ich glaube, es braucht einfach mehr gesellschaftliche Auseinandersetzung damit. Das Schweigen kränkt so sehr, weil man nicht wahrgenommen wird. Es ist so, als dürfe ein Teil von dir nicht an die Oberfläche", sagt L. Ihren Vorgesetzten und den Kollegen möchte sie dennoch nicht zu viele Vorwürfe machen. "Vielleicht haben sie gedacht, gar nicht zu reagieren ist besser, als falsch zu reagieren." Eine Einstellung, die beide Frauen ablehnen. Sie haben sich vor einigen Monaten in einer Trauergruppe kennengelernt, sind dort zu Freundinnen geworden. "Es gibt kein Fettnäpfchen und keinen wunden Punkt, denn der Mensch selbst ist der wunde Punkt", sagt Scheiber. Es gelte die Devise, auf Trauernde zuzugehen. Auch wenn man nicht weiß, was man sagen soll. "Es hilft schon, wenn man einfach einen Kaffee an den Schreibtisch gestellt bekommt. Und wer nicht weiß, was er sagen soll, kann ja genau das zum Ausdruck bringen", sagt L.

Lobbyarbeit für die Trauerbewältigung

Neben dem richtigen Umgang und der Kommunikation sind es aber auch arbeitsrechtliche Fragen, die im Zusammenhang mit Trauer- und Todesfällen am Arbeitsplatz diskutiert werden sollten, sagen Musiol und Geldmacher. Lobbyarbeit gehört für sie deswegen auch dazu. Den durch den Suizid des Co-Piloten ausgelösten Absturz der Germanwings-Maschine Anfang 2015 über den südfranzösischen Alpen nahm Geldmacher zum Anlass, sich mit internationalen Beispielen auseinanderzusetzen. Angehörige der Opfer aus 35 Nationen reisten damals zu der Unglücksstelle, Geldmacher sah sich an, unter welchen Voraussetzungen sie das taten: Krankenstand, Urlaub, Trauerfreistellung? Bezahlt oder unbezahlt? "Bei der Recherche hat sich herausgestellt, dass die Modelle sehr unterschiedlich sind. In Frankreich können beispielsweise Tage des eigenen Urlaubs an Kollegen verschenkt werden, was natürlich nicht unproblematisch ist." In Kanada kann man sich hingegen bis zu zehn Tage für persönliche Notfälle freinehmen, ohne einen konkreten Grund nennen zu müssen. "Eine ziemlich großzügige Regelung", sagt Geldmacher.

Je nach Betriebsvereinbarung bekommen Arbeitnehmer in Österreich zwischen einem und drei Tage frei. Danach gehen viele Betroffene in den Krankenstand. Auch L. meldete sich mit der Einlieferung ihres Freundes in die Palliativstation zunächst krank. Dass es mit der Familienhospizkarenz eine Möglichkeit gibt, Sterbende zu begleiten, erfuhr sie erst später. Sie suchte an und konnte das Angebot dann nutzen. "Ich finde, dass man von Personalabteilungen in größeren Unternehmen hier Unterstützung und mehr Information verlangen kann", sagt sie. Auch Geldmacher und Musiol zufolge wird das Modell, das international durchaus als vorbildlich gilt, noch nicht sehr stark in Anspruch genommen. Grundsätzlich sucht man um das Karenzmodell beim Dienstgeber an. Die maximale Dauer beträgt drei Monate, eine Verlängerung um weitere drei Monate ist möglich. Wenn der oder die Angehörige stirbt, bekommt die karenzierten Personen noch zwei Wochen Karenzgeld. Danach kann der Arbeitgeber aus dringlichen Gründen die Rückkehr verlangen, oder man bleibt bis zum vorgesehenen Ende in Karenz – allerdings ohne Geld. Ein Detail, über das L. nicht informiert wurde. "Am Ende musste ich etwa 1.000 Euro Karenzgeld zurückbezahlen."

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Die wirtschaftliche Seite

In der Arbeit folgte der nächste Tiefpunkt. Wichtige Projekte und Verantwortung bekam sie nach ihrer Rückkehr nicht mehr. "Ich war damals nicht in der Lage, selbst einzuschätzen, ob ich funktionstüchtig bin, und habe deswegen keine Forderungen gestellt." Die vier Monate Auszeit kommentierte L.s Vorgesetzter im Mitarbeitergespräch ein halbes Jahr nach ihrer Rückkehr gar als Karriereknick. Ein Schlag in die Magengrube. "In dem Moment war ich einfach nur baff. Es fühlt sich an wie ein nochmaliges Verlieren." Rückblickend weiß sie: Nach einem Verlust sei es noch wichtiger, dass die eigene Leistung im Unternehmen anerkannt wird. Es wäre sehr wichtig, Dinge zu hören wie "Du machst deine Arbeit gut, leistest einen wichtigen Beitrag". "Einfach anzunehmen, was gut für die Person ist, ohne mit ihr zu sprechen, ist hingegen alles andere als hilfreich." Sie sieht das Ganze aber auch mit einer Portion Pragmatismus: Solange man verrechenbar bleibe, gebe es immer eine wirtschaftliche Seite für das Unternehmen. Das sei bei ihr im Betrieb schon immer betont worden. Warum sie sich nicht über die fehlende Unterstützung beklagte? "Ich hatte einfach keine Kraft und keinen Kopf für solcherart Gespräche. Das erste Trauerjahr ist so intensiv, da hat man einfach andere Sorgen."

Wirtschaftliche Argumente für einen sensiblen Umgang mit trauernden Beschäftigten – beziehungsweise ganz allgemein mit Beschäftigten, die aus unterschiedlichen Gründen für bestimmte Zeit nicht zu hundert Prozent leistungsfähig sind – gibt es genügend. Ganz in Silicon-Valley-Manier hat auch Sheryl Sandberg in ihrem Buch versucht, diese Auswirkungen zu beziffern. Die Produktivitätsausfälle würden auf jährlich 75 Milliarden Dollar kommen, rechnet sie darin vor. Sandberg schlägt deswegen freie Tage, flexible Arbeitszeiten und finanzielle Hilfe für Betroffene vor. Geldmacher und Musiol betonen zudem den Umfang des Themas: "Die Generation der Babyboomer verliert in den nächsten Jahren die Eltern. Da wird der Umgang mit Trauer und Tod am Arbeitsplatz ein viel stärkerer Faktor sein." Allgemein plädieren die beiden für eine Lebensphasen-orientierte Personalpolitik. Das betont auch L.: "Wer kann schon immer hundert Prozent geben? Da sind einerseits Eltern mit kleinen Kindern, die schlaflose Nächte haben und mit Augenringen dasitzen. Andere Leute bauen Häuser oder kümmern sich um Angehörige, sind frustriert und wollen kündigen. Die Frage ist deswegen: Muss sich das Leben an die Arbeit anpassen oder die Arbeit an das Leben?"

Totenanekdoten am Nachbartisch

Die beiden jungen Frauen Scheiber und L. wollen das Thema jedenfalls weiter in die Öffentlichkeit tragen. Sie arbeiten gemeinsam an einem Buch und haben mit dem "Young Widow(er)s Dinner Club" eine Trauergruppe gegründet, in der es etwas lockerer zugeht. Einmal pro Monat treffen sich Menschen unter 50, deren Partner oder Partnerin verstorben ist, zum Abendessen irgendwo in Wien. Geplaudert wird über alles Mögliche, nicht zwangsläufig über ihre Schicksalsschläge. "Aber der große Unterschied ist, jeder von uns weiß, was mitschwingt, ohne es groß sagen zu müssen. Die Trauer kann zu jeder Zeit aufflammen, und in dem Rahmen hat man nie das Gefühl, dass es unangebracht ist, eine Totenanekdote einzuwerfen", sagt Scheiber. "Allerdings", stimmt L. mit einem Grinsen zu. Wer in den Lokalen an ihrem Nebentisch sitze, wundere sich wahrscheinlich über die argen Geschichten, die dort mitunter erzählt werden. Genau so solle es sein. (Lara Hagen, 1.11.2017)