Ein ukrainisches Ehepaar lebt seit 30 Jahren in selbstgewählter Einsamkeit und negiert die Nah- und Fernwirkungen des Reaktors in Tschernobyl: eine Meditation über Zeit und Kausalitäten.


Foto: Frederik Buyck

Graz – Zu den Schrecken des modernen Bewusstseins gehört die Vorstellung einer Welt ohne Menschen. Bilder einer solchen rätselhaften Entvölkerung sind in der Erzählliteratur häufig an Bedingungen geknüpft, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen. In Romanen wie Wittgensteins Mätresse (1988) des US-Autors David Markson erwachen Erzählfiguren wie aus einem Albtraum. Sie finden ihre Umwelt intakt vor, nur dass sie eben auf die Gesellschaft von Mitmenschen komplett Verzicht leisten müssen. (Thomas Glavinic spann diesen Erzählfaden in seinem Werk Die Arbeit der Nacht 2006 fort.)

Postnukleare Zeugen der Zeit

Zu zweit vereinsamt sein und dabei Zeugnis ablegen über das Verrinnen der Zeit: Nadia und Pétro Opanassovitch Lubenoc wohnen seit über 80 Jahren im ukrainischen Dorf Zvizdal. Nach der Reaktorschmelze im nahen Tschernobyl erklärte man den Flecken für unbewohnbar. Alle Nachbarinnen und Nachbarn wurden abgesiedelt. Das Ehepaar, die postnukleare Ausgabe von Philemon und Baucis, blieb vor Ort. Nadia und Pétro wollten unter keinen Umständen aus "ihrer natürlichen Umgebung" weichen.

30 Jahre haben die beiden in selbstgewählter Isolation ausgeharrt, ohne Fließwasser, Strom und Telefon. Langsam, beinahe unmerklich, nimmt die Natur die verwaisten Relikte der Zivilisation zurück in ihren Besitz. Als wahre Regentin wacht unsichtbar die Strahlung über das Leben des Greisenpaares.

Die Performancegruppe Berlin hat die störrischen Überlebenskünstler in ihrem Residuum mehrmals besucht und gefilmt. Das dokumentarische Filmmaterial wird in den Aufführungen von Zvizdal mit Live-Bildern aus einem Miniaturmodell verschnitten, das u. a. den Wechsel der Jahreszeiten verdeutlichen hilft. Ein Projekt, das Einsichten des ostdeutschen Dramatikers und Brecht-Schülers Heiner Müller verdeutlichen hilft: Als Gewinner geht aus einer nuklearen Katastrophe stets die Natur hervor. (Ronald Pohl, Spezial, 29.9.2017)