Aufstockung eines brutalistischen Bürohauses aus den 70ern: das Brädstapeln-Projekt in Stockholm.

Foto: Visualisierung: Manuelle Gautrand

Fensterläden wie ein Schuppentier: Cartoucherie in Toulouse.

Foto: Luc Boegly

Gautrand: "Meine expressive Art liegt nicht jedem."

Foto: Studio Gaudin Ramet

STANDARD: Adolf Loos hat einmal gesagt, Ornament sei Verbrechen. Was würde er wohl von Ihrer Architektur halten?

Gautrand: Loos? Loos würde mich hassen. In seinen Augen wäre ich eine Kriminelle. Aber ich würde von ihm niemals verlangen, sich für meine Architektur zu begeistern. Das Gute ist, dass es im Laufe der Zeit viele unterschiedliche Persönlichkeiten und ebenso viele Ansätze in der Architektur gab. Die Vielfalt macht die Stadt aus.

STANDARD: Für Ihren eigenen Ansatz wurden Sie vor zwei Wochen mit dem European Prize for Architecture ausgezeichnet.

Gautrand: Ich freue mich wahnsinnig über diese Auszeichnung. Der Preis bestärkt mich in meiner Identität und in meinem Wunsch, nicht so sehr als ausschließlich französische, sondern vielmehr als paneuropäische Architektin wahrgenommen und verstanden zu werden. Und er ist auch Ausdruck meines Wunsches, in Zukunft verstärkt in ganz Europa tätig zu sein. Schreiben Sie das! Wer weiß, wer diesen Artikel lesen wird ...

STANDARD: Christian Narkiewicz-Laine, Auslober des Preises und Präsident des Architektur- und Designmuseums Athenaeum in Chicago, sagte in seiner Jurybegründung: "Ihre Bauten erfüllen sämtliche Anforderungen an Funktion, Technik, Handwerk, Baukultur und räumliche Schönheit auf poetische und vortreffliche Weise."

Gautrand: Klingt echt gut. Können Sie das noch einmal vorlesen? Mir wurde auch gesagt, dass ich für meine intensive Auseinandersetzung mit der Bauaufgabe, mit dem Standort und mit den Wünschen und Vorstellungen des Bauherrn geschätzt werde. Die Sache ist die: Ich denke mir etwas dabei, wenn ich meine Gebäude gestalte. Einige Menschen erkennen und verstehen diesen Ansatz, andere nicht.

STANDARD: Tatsächlich haben Sie viele Kritiker, die Ihnen Oberflächlichkeit vorwerfen. Dann fallen Begriffe wie Ornament, Fassadenmanierismus und Blümchenarchitektur. Was sagen Sie dazu?

Gautrand: Ich weiß, dass ich sowohl als Person als auch als Architektin eine expressive, extrovertierte und zugleich auch sensible, delikate Art habe, die erstens nicht jedem liegt und die zweitens nicht immer leicht einzuordnen ist. Das macht nichts.

STANDARD: Welche Mission verfolgen Sie damit?

Gautrand: Da gibt es viele Gründe. Auf einer persönlichen, egoistischen Ebene würde ich sagen: Ich brauche die Schönheit, um mich zu artikulieren. Über das Ornament kann ich meine Gefühle ausdrücken. Das ist mir ein großes Anliegen. Auf einer architekturgeschichtlichen, theoretischen Ebene würde ich sagen: Es gibt nichts Schöneres, nichts Unmittelbareres als ein altes Gemälde mit Licht und Schatten, als ein Möbelstück aus der Belle Époque, als ein reichhaltig strukturiertes Palais aus der Renaissance. Wir sind von diesen künstlerischen Herangehensweisen bis heute fasziniert – im Übrigen auch die Architekten, bloß trauen sie sich nicht, dieser Sehnsucht Raum zu verleihen. Und auf einer urbanen, gesellschaftlichen Ebene würde ich Ihnen einfach nur eine simple Frage stellen wollen: Warum lieben wir alle die europäische, historisch gewachsene Stadt?

STANDARD: Sagen Sie es uns!

Gautrand: Weil die europäische Stadt ein wunderschöner, heterogener Mikrokosmos ist, der uns im Herzen berührt und in dem wir uns seit Jahrhunderten wohlfühlen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Ich bin in keinster Weise nostalgisch veranlagt. Ich bin eine große Anhängerin der zeitgenössischen Architektur. Aber viele Projekte und Stadtquartiere, die heute errichtet werden, leiden an allzu großer Nüchternheit und an einem Mangel an Poesie. Man kann nicht immer nur mit Logik und Funktionalität argumentieren. Es braucht auch wieder Schönheit.

STANDARD: Für viele Architekten ist Schönheit kein Kriterium.

Gautrand: Viele haben Angst davor. Gerade bei jenen, die in der Situation sind, die Stadt zu planen und weiterzuentwickeln, ist der Begriff meist ziemlich verpönt.

STANDARD: Ist Schönheit ein Selbstzweck?

Gautrand: Das lässt sich nicht eindeutig beantworten. Ich kann nur für mich sprechen. In meinen Projekten ist Schönheit niemals nur Selbstzweck, sondern übernimmt immer auch eine ganz spezifische Funktion. Mal ist es ein statisches Element, mal eine bauphysikalische Maßnahme, mal eine bewusst gesetzte Kommunikationsfläche zwischen innen und außen, zwischen privatem und öffentlichem Raum, zwischen Bewohnern und Stadt. Die Schönheit ist nie so intuitiv, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag.

STANDARD: Sondern? Können Sie ein Beispiel nennen?

Gautrand: Das Kino Gaumont Alésia in Paris, das wir letztes Jahr fertiggestellt haben, ist in ein skulptural geknicktes Stahlkleid gehüllt, das zugleich auch als Info-Display dient. 230.000 LED-Pixel sorgen dafür, dass hier Filmprogramme und Trailer gezeigt werden können. Besonders gelungen finde ich allerdings unser Wohnhaus Cartoucherie in Toulouse, in dem wir kreisrunde Fensterläden eingebaut haben. Durch das individuelle Verschattungsbedürfnis der Bewohner entsteht ein lebendiges, vielfältiges Bild mit unterschiedlich auf- und zugeklappten Schuppen, die den Eindruck erwecken, als wäre das Haus selbst schon ein Lebewesen.

STANDARD: Eines Ihrer größten Projekte, an dem Sie gerade arbeiten, ist die Aufstockung eines brutalistischen Siebzigerjahrehauses in Stockholm. Wie verträgt sich die schöne Schönheit mit der hässlichen?

Gautrand: Bestens. Das Brädstapeln ist ein sehr starkes, expressives Bürogebäude von den Architekten Tengbom und Salamon – ein wunderschönes Beispiel für Brutalismus mitten im Zentrum von Stockholm. Im Auftrag der Stadtverwaltung arbeiten wir derzeit an einer massiven, 17.000 Quadratmeter großen Aufstockung mit insgesamt drei Geschoßen, in denen Büros, Hotel, Restaurant und eine öffentliche Aussichtsterrasse untergebracht werden sollen. Wir versuchen, mit unserer Erweiterung auf den damals aktuellen Ästhetikbegriff zu referenzieren, indem wir eine große, gestische Landmarke in Form eines Diamanten draufsetzen. Damit wollen wir die wunderschöne Stadtsilhouette Stockholms weiterzeichnen.

STANDARD: Damit geht Ihr Wunsch nach Europa bereits in Erfüllung.

Gautrand: Ein Hauch davon! Da braucht es noch viel mehr. Wissen Sie, wir haben die schönsten Städte der Welt. Und zugleich haben wir den geringsten Mut, die Schönheit dieser Städte fortzusetzen. Das ist traurig. Das will ich ändern. (Wojciech Czaja, 1.10.2017)